Marvel Fusion und der Traum von der laser-induzierten Trägheitsfusion

Cleantech-Startup Marvel Fusion schließt mehrere Partnerschaften. Standort Penzberg, 50 Kilometer südlich von München, auf der Kippe.

Was das Cleantech-Startup Marvel Fusion vor hat, ist so etwas wie der Heilige Gral der sauberen Energieerzeugung: Fusionsenergie kann theoretisch grenzenlos, frei von Treibhausgasemissionen, ohne Risiko einer Kernschmelze und bei richtiger Brennstoffauswahl, frei von Bedenken bezüglich militärischer Nutzung sein. Das Team von hochkarätigen Wissenschaftlern will sich jetzt in einer bayerischen Kleinstadt ansiedeln, um die laser-induzierte Trägheitsfusion innerhalb eines Jahrzehnts zu kommerzialisieren.

Penzberg ist eine Kleinstadt mit etwa 16.000 Einwohner, gelegen 50 Kilometer südlich von München. Die Alpen sind nicht fern, die Luft entsprechend gut – nur zwei Gründe für die Attraktivität des Standorts. Roche Diagnostics macht Penzberg seit 1998 auch zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort – im Gewerbegebiet Nonnenwald hat die Tochter der Unternehmensgruppe Hoffmann-La Roche mehr als 6.200 Arbeitsplätze geschaffen. Aktuell denkt das Unternehmen über einen Ausbau des Standorts nach.

Gegenüber dem Standort von Roche Diagnostics im Gewerbegebiet Nonnenwald wird möglicherweise das Cleantech-Startup Marvel Fusion auf einem 29.000 Quadratmeter großen Grundstück ansiedeln. Stand März 2022 ist, dass eine Frist des Penzberger Bürgermeisters zum Kauf des Grundstücks verstrichen ist. Marvel Fusion evaluiert nach eigenen Angaben weiter Grundstücke, die teilweise auch näher an München dran sein sollen. Es geht auch – so ist zu lesen – um Subventionen für die Ansiedlung. Penzberg ist offenbar nicht aus dem Rennen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es die Firma dorthin zieht, sind deutlich gesunken.

Darmstädter Physik-Professor als Mitgründer

Marvel Fusion will die sogenannte laser-induzierte Trägheitsfusion Realität werden lassen. Erstmals öffentlich in Erscheinung trat das Unternehmen im Februar 2020 als der Darmstädter Physik-Professor Markus Roth in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über seine Arbeit berichtete. Seine Forschungs-Ziel: Die „fast“ neutronenfreie Fusion mit Lastertechnik verlässlich entzünden.

Roth ist – wie mehrere andere Kollegen bei Marvel Fusion – auf Lasertechnik und Plasmaphysik spezialisiert. Als Berater agiert Nobelpreisträger Gérard Mourou, der die Laserphysik-Methode der Chirped Pulse Amplification (Verstärkung gechirpter Pulse) einführte, die es erlaubt, Laserpulse mit sehr hoher Intensität zu erzeugen.

Preise für Laserdioden sinken rapide, Leistung verbessert sich

Seit der Einführung dieser Methode haben sich entsprechende Laser rasant weiterentwickelt. Ähnlich wie bei der Kostenkurve sanken die Preise für Laserdioden als Haupt-Kostentreiber rapide: Von mehr als 40 Dollar pro Watt im Jahr 2000 auf weniger als 5 Dollar pro Watt im Jahr 2018.

Zeitgleich verbesserte sich die Laserleistung nach Moore’s Law kontinuierlich – auch hier ist die Analogie zur Photovoltaik erkennbar. Bedeutet: Sowohl die Laser-Spitzenleistung als auch die Repetitionsrate verbesserte sich erheblich. Aus Sicht von Marvel Fusion so immens, dass nun erstmals ein Level erreicht ist, um kommerzielle Fusionskraftwerke zu ermöglichen.

Marvel Fusion: Wasserstoff-Protone und Bor-Isotope

Für die Technologie von Marvel Fusion sind diese Laser entscheidend. Sie lösen eine Fusion von Wasserstoff-Protonen mit Bor-Isotopen aus. Hieraus sollen, so die Selbstbeschreibung des Unternehmens, positiv geladene Helium-Teilchen entstehen. Die Energiezufuhr erfolgt dabei über sehr kurz gepulste, hochenergetische Laser. Für einen sehr kurzen Zeitraum sollen in der sogenannten Explosionswolke Temperaturen von 140 Millionen Grad entstehen, wie Prof. Roth beschreibt, der selbst an der Universität mit Phelix einen der bisher stärksten Laser überhaupt entwickelt hat.

Gründerteam von Marvel Fusion.

Mit-Gründer des Unternehmens sind neben dem Dr. Georg Korn (CTO, wissenschaftlicher Direktor des Laserforschungszentrums ELI in Prag) auch der Unternehmer Moritz von der Linden. Der CEO kommt mit der Erfahrung aus der erfolgreichen Veräußerung seiner vorherigen Unternehmen – im gelang in 2015 der Verkauf der Devisenplattform 360T für 750 Millionen Euro an die Deutsche Börse.

Geldgeber wie BlueYard Capital und Susanne Klatten

Mittlerweile, im Dezember 2020 und gut zehn Monate nach dem Erscheinen des FAZ-Artikels, hat sich Marvel Fusion Geldgeber besorgt, die genügend Kapital beisteuern, um in den kommenden Jahren ein Demonstrationskraftwerk zu bauen. Neben dem Erstinvestor BlueYard Capital, haben auch Albert Wenger und Susan Danziger Kapital beigesteuert – und nach eigener Aussage auch der Zusammenschluss von Business Angels, In.Ventures.

Und zuletzt wurde öffentlich, dass auch BMW-Großaktionärin Susanne Klatten über ihr Investment-Vehikel Skion zum Kreis der Geldgeber zählt, die an die Möglichkeit glauben, dass das Team rund um Moritz von der Linden es tatsächlich schaffen kann, innerhalb eines Jahrzehnts die laser-induzierte Trägheitsfusion in Kraftwerken der Größe zwischen einem und fünf Gigawatt zu kommerzialisieren.

Gelingen die nächsten Schritte der Technologie-Erforschung bzw. Demonstration, sollen Investitionen von bis zu zwei Milliarden Euro folgen. Bis 2028 soll laut Zeitplan des Unternehmens der Nachweis erbracht werden, dass die Technologie mit der neuesten Lasergeneration funktioniert. Ziel ist es 100 bis 200 mal mehr Energie aus dem Prozess herauszuziehen als zuvor hineingesteckt werden muss, um ihn auszulösen.

Im Februar 2022 gab Marvel Fusion eine Series-A-Finanzierungsrunde bekannt: 35 Millionen Euro erhält das Unternehmen von Earlybird als Hauptinvestor. Weitere Geldgeber wurden nicht genannt. Insgesamt wurden damit bis Mai 2022 65 Millionen Euro eingeworben.

Das Team von Marvel Fusion verfolgt eine neue und wirtschaftlich attraktivere Fusionstechnologie sowie einen schnellen Weg zur kommerziellen Anwendung der Fusionsenergie. Marvel Fusion steuert die Umwandlung der eingespeisten Laserenergie in beschleunigte Brennstoffteilchen durch das Design seiner nanostrukturierten Targets präzise. Dieser Ansatz ermöglicht eine höhere Effizienz bei der Auslösung von Fusionsreaktionen und eine größere Energieausbeute.

Wer schafft den Durchbruch?

Marvel Fusion ist weltweit eines von etwa einem Dutzend Unternehmen, die mit leicht unterschiedlichen Ansätzen versuchen, die Energieerzeugung durch Kernfusion hinzubekommen. Dabei sind die Wissenschaftler, die am Fusions-Pfad arbeiten davon überzeugt, die überlegene Technologie im Vergleich zur Kernspaltung zu erforschen.

Ausschnitt aus der Präsentation von Marvel Fusion.

Schaut man auf die Technologien, die dem Pfad von Marvel Fusion ähneln, fällt das MIT-Startup Commonwealth Fusion Systems auf. Deren SPARC-Technologie, die mit Plasma und starken Magneten hantiert, soll ebenfalls ab ca. 2030 kommerziell verfügbar sein. Ein Nachteil ist laut Kennern allerdings, dass dieses Unternehmen auf Tritium als Wasserstoff-Isotop statt Bor setzt.

Während Bor als Rohstoff verfügbar ist, muss Tritium hergestellt werden. Zwar soll das innerhalb des Prozesses von Commonwealth Fusion Systems passieren, ein Experte berichtet dem Guardian aber, dass dieser Prozess extrem energieintensiv sei – und damit die Technologie teuer machen könnte. Außerdem ist Tritium – im Gegensatz zu Bor – höchst radioaktiv.

Ob die Marvel-Technologie funktionieren wird, ist bislang natürlich unklar. Aus der Phase der Simulation an Supercomputern ist bereits eine Phase der experimentellen Überprüfung in Hochleistungslaseranlagen geworden. Hiervon gibt es global nur zehn Stück. Aktuellen Angaben zufolge wird der Prototyp für die Validierung 500 Millionen Euro kosten – ob das bereits Anfang der 2030er Jahre klappt, wie es Marvel Fusion hofft?

Cleantech-Unternehmen gewinnt große Partner

Marvel Fusion hat in den Jahren 2021 und 2022 gleich mehrere renommierte Partner gewonnen, die das Vorhaben der Bayern unterstützen: Siemens Energy etwa, daneben der Laser-Spezialist Trumpf und der französische Konzern Thales. Bei Siemens Energy ist man überzeugt, Solar und Wind würden alleine nicht für die Versorgung Deutschlands ausreichen, daher setze man auf Kernfusion – obwohl sich der einstige Mutterkonzern Siemens längst von Atomtechnik verabschiedet hat.

Trumpf wiederum soll kraftwerkstaugliche, spezielle Laser entwickeln, rechnet damit aber laut einem FAZ-Artikel erst bis 2040. Gelingt das nicht früher, würde der Zeitplan von Marvel Fusion deutlich durcheinander gewirbelt.

Wird das Märchen wahr?

Bei den Anhörungen im Stadtrat von Penzberg, in der Präsentation von Marvel Fusion, und auch in der Beantwortung von Fragen auf der Webseite der Stadt wird deutlich: Alle Befragten versichern, dass für die Bevölkerung keine Gefahr von dem Fusionsreaktor ausgehen kann. Sobald ein Problem auftritt, wird der Laser gestoppt. Im selben Augenblick besteht, so die Aussagen des Unternehmens, kein Risiko mehr, insbesondere kann keine Kettenreaktion eintreten.

Trotz geringer Sicherheitsbedenken steht buchstäblich in den Sternen, ob das Vorhaben von Marvel Fusion erfolgreich sein wird. Denn die Kernfusion in Gang zu setzen, ist eine schwierige Herausforderung. Das bisher ertragsreichste Experiment in Europa fand im ELI in Prag statt – es gelang mit dem stärksten Laser Europas, Energie freizusetzen. Allerdings entsprach die Menge weniger als einem der Prozent der aufgewendeten Energie.

Das zeigt, wie ambitioniert die Pläne der Forscher und Unternehmer sind. Zumal quasi jeder schon von ähnlichen Versprechungen anderer Fusions- oder Spaltungs-Experten gehört hat. Realität wurde es bislang nicht. Allerdings machen zwei Dinge Mut, dass Marvel Fusion es schaffen kann: Die Vereinigung hochkarätiger Experten hinter dem Konzept einerseits, und der Fakt, dass man offenbar ohne öffentliche Fördergelder ca. 300 Millionen Euro für die nächste Etappe einsammeln konnte, andererseits.

Technologie als Baustein der Energiewende

Aus Sicht von Cleanthinking ist es gut, wenn solche Vorhaben vorangetrieben werden. Die Zeichen stehen durchaus gut, dass Kernfusion irgendwann gelingen, und brauchbar nutzbar sein wird. Ob das aber in zehn, dreißig oder vielleicht erst 50 Jahren möglich sein wird, ist unklar.

Daher ist es ratsam, sich im Sinne der Energiewende nicht darauf zu verlassen, und den Pfad „Ausbau 100 Prozent Erneuerbare“ weiter zu verfolgen. Sollte Kernfusion dann möglich sein, können damit Ersatzinvestitionen in Solarkraftwerke womöglich vermieden werden. Wenn der Traum von der laser-induzierten Trägheitsfusion tatsächlich irgendwann wahr wird.

(Dieser Beitrag entstand ursprünglich am 29. Dezember 20220, wurde zuletzt am 7. Juni 2022 aktualisiert und erweitert)

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

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