Das grüne Paradoxon: Wieso die Theorie von Hans-Werner Sinn an der Realität zerschellt

Experten wie der Ökonom Sinn ignorieren den technischen Fortschritt bei der Energiewende.

Das vielleicht entscheidende Problem in den Argumentationsketten sogenannter Experten rund um die grüne Transformation sowie die Verkehrs- und Energiewende ist, dass sich Hans-Werner Sinn und Co. nicht vorstellen können oder wollen, dass sich auf Basis erneuerbarer Energien wortwörtlich ALLES ändert. Der Wandel zu erneuerbaren Energien ist genauso ein System- und Epochenwechsel wie die Abkehr vom Verbrennungsmotor, die etwa Fritz Idra nicht wahrhaben will. Der Artikel beleuchtet, was sich ändert – und, warum der Blick zurück nicht hilft – echter Gestaltungswille dagegen sehr.

Das Grüne Paradoxon – Klimaschutz ohne Wirkung

Mit „Das Grüne Paradoxon“ hat der Ökonom Prof. Hans-Werner Sinn einen unerwünschten Effekt umweltpolitischer Maßnahmen umschrieben. Politiker, so die Auffassung des ehemaligen Hochschullehrers würden glauben, dass sie durch „grüne Gesetze“ die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen verringern könne, um das Klima zu retten. Konkret könne man mit „Energiesparpolitik“ das weltweite Angebot an Kohlenstoff nicht aushebeln.

Vielmehr würde man lediglich die Nachfrage partiell verringern und dadurch den Anstieg der Weltmarktpreise verringern. In seiner Logik wird das Problem sogar verschlimmert, weil die Förderer fossiler Ressourcen diese ohne Frage auch verwerten wollten. Der Kernsatz lautet also: „Bedrohen wir die Ressourcenbesitzer mit einer immer grüner werdenden Politik, die ihnen das zukünftige Geschäft kaputtmacht, kommen sie der Bedrohung zuvor und fördern ihre Bodenschätze nur noch schneller.“

„Statt den Klimawandel zu bremsen“, so schreibt Sinn in seinem gleichnamigen Buch Das Grüne Paradoxon, „beschleunigen wir ihn. Das ist das grüne Paradoxon.“

Zerschellt diese Argumentation an der Wirklichkeit?

Die grundlegende Theorie Sinns ist nachvollziehbar. Allerdings nur in einer Welt, die stabil ist. Wir hingegen – und das fehlt meiner Ansicht nach komplett – leben in einer Zeit des Wandels. Die Bedeutung des Wandels hin zu erneuerbaren Energien, der grünen Transformation allgemein sowie disruptiver Marktveränderungen, wird unterschätzt beziehungsweise wegen der Schwierigkeit, die Veränderungen volkswirtschaftlich präzise vorherzusagen und einzuordnen, unterschlagen.

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Klar ist: Alleine der Umstand, dass sowohl Europa (Green Deal) als auch die USA (Inflation Reduction Act) übergreifende „grüne Politik“ initiiert haben, schwächt die Argumentation Sinns entscheidend. Denn Sowohl USA und Europa als auch China haben verstanden, dass sie zwei Dinge zeitgleich tun: Emissionen reduzieren etwa durch Elektrifizierung einerseits und die grünen Märkte der Zukunft gestalten auf der anderen Seite.

Erneuerbare Energien für Zukunftsmärkte

Dazu kommt: Die Basis für die Gestaltung der Zukunftsmärkte ist die weitgehende Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien und – je nach Region – Atomkraft. Denn nur durch fossilfreie Produktionsstätten lassen sich grüne Produkte auf den Weltmärkten verkaufen. Und diese erneuerbaren Energien sind dank disruptiver Entwicklung über Dekaden bereits heute günstiger als fossile Alternativen.

Eine weitere, unterschätzte Entwicklung: Europa etwa hat Zölle auf Stahl angekündigt, um die gerade entstehende, grüne Stahlproduktion in Europa zu schützen. Auf Basis dieser Entscheidungen ändert sich das Verhalten von Unternehmen und Regierungen – etwa im Hinblick auf eine CO2-Besteuerung in Indien.

Wettlauf zwischen Europa, USA und China

Europa, USA und China sind in einem Innovations- und Subventionswettlauf um die Märkte der Zukunft. Diese Märkte sind grün. Das passt nicht zu den Argumenten von Hans-Werner Sinn, der in Das Grüne Paradoxon und aktuell in Interviews von extremistischer Klimapolitik und einem deutschen Alleingang spricht. Das entspricht mindestens nicht „mehr“ der Realität.

Um auf die angestachelten Ressourcenbesitzer zurückzukommen: Worin liegt also der Sinn, quasi panisch mehr fossile Rohstoffe verbrennen zu müssen, wenn es weit lukrativer für ein Land oder ein Unternehmen ist, fossilfrei zu werden? Vielmehr dürfte das Wettrennen der führenden Industrienationen, möglichst schnell erneuerbare Energien auszubauen, und Brennstoffkosten einzusparen, sich beschleunigen.

Prognose der BCG zu Erdgas-, Strom-, CO2-Preis in Deutschland, USA und China im Vergleich

Ein weiteres Indiz, dass die Theorie von Sinn den Realitätstest nicht besteht: Ausgerechnet die Internationale Energie-Agentur, die nicht im Verdacht steht, besonders fossilfeindlich zu sein, prognostiziert mittlerweile den Höhepunkt der Nutzung fossiler Brennstoffe noch innerhalb dieser Dekade.

Andere Forscher, wie etwa Tony Seba von RethinkX, gehen von einem noch viel schnelleren Zusammenbrechen der fossilen Märkte aus – wobei man aus meiner Sicht zwischen der Verwendung etwa von Öl als Rohstoff einerseits und als Brennstoff andererseits unterscheiden sollte. Bis alle Produkte, die heute auf ölbasiertem Kunststoff basieren, verändert sind, wird noch mehrere Jahrzehnte dauern.

Die Gegenthese zu Sinns grünem Paradoxon lautet also: Die grüne Politik der führenden Wirtschaftsregionen führt zu einem Innovationswettlauf, der die Abkehr von fossilen Brennstoffen ermöglichen wird.

Alles, wirklich alles, ändert sich

Um die Gegenthese zu „Das grüne Paradoxon“ zu unterfüttern, ist es wichtig, zu verstehen, was sich in den kommenden beiden Dekaden aus heutiger Sicht alles verändern wird. Aus Sicht der Denkfabrik RethinkX nichts weniger als die fundamentalen Sektoren unserer Gesellschaft:

  • Die Art, wie wir Energie erzeugen, transportieren und flexibel verwenden
  • Die Art, wie wir mobil sind
  • Das, was wir Essen und Trinken, wird sich fundamental ändern
  • Unsere Arbeitswelt wird sich vollständig wandeln
  • Was wir auf Basis welcher Grundlagen produzieren, verändert sich stark

Adam Doerr von RethinkX bringt das in seinem Buch Brighter und der kostenlosen Video-Reihe herausragend auf den Punkt:

Unsere Arbeitswelt: KI, Roboter, autonomes Fahren

In den kommenden zwei Dekaden bis 2045 verändert sich beispielsweise unsere Arbeitswelt wie nie zuvor ganz grundlegend. Möglich machen es Roboter, Künstliche Intelligenz oder Quantencomputer, die mit günstigen erneuerbaren Energien angetrieben werden.

Alleine die Potenziale, Code nicht mehr durch Programmierer, sondern durch künstliche Intelligenz erzeugen zu lassen, sind gewaltig. Der Chat GPT-Moment und die Entstehung unzähliger, höchst spezialisierter KI-Lösungen sind nur der sichtbare Teil dessen, was in der Arbeitswelt durch rasant besser werdende Künstliche Intelligenz gerade passiert.

Das bedeutet, positiv gesprochen, dass bestimmte Arbeit sehr viel günstiger und effektiver wird, weil etwa Roboter weniger Pausen brauchen als Menschen. Die Arbeit wird sich also dahin verlagern, künstliche Intelligenz oder neuronale Netze gezielt zu trainieren oder einfache Standardaufgaben an entsprechende Systeme zu übergeben.

Solche Standardaufgaben können durchaus Programmieraufgaben sein, die die Maschine wesentlich schneller erledigen kann, als ein Mensch. Aufgabe des Menschen wird es also eher sein, die nächsten, mit erneuerbarer Energie effizient angetriebenen Roboter zu bauen, die beispielsweise den Plastikmüll an Stränden aufsammeln, damit dieser für energetische Verwertung oder gar Recycling genutzt werden kann.

Autonomes Fahren ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Maschinen den Menschen Arbeit abnehmen – in diesem Fall das Lanken, Bremsen, Steuern eines Fahrzeugs – und sich dadurch die Produktivität der Arbeitskräfte steigern lässt. Elon Musk hat bei der Live-Demonstration seiner aktuellen Software für autonomes Fahren betont, dass für die Programmierung dieser Software nur wenige Hundert Zeilen Code notwendig waren. Der Rest war Training über Videos.

Das identische Verfahren neuronaler Netze wendet Tesla auch bei der Entwicklung humanoider Roboter namens Optimus an. Die Fortschritte, die dabei erzielt werden, sind atemberaubend:

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Vielmehr setzen Musk und Tesla auf neuronale Netze. Die Aufgabe der Menschen besteht nicht mehr darin, dem Elektroauto durch programmierten Code aufzuzeigen, wie man durch einen Kreisverkehr fährt. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, Rechenleistung zu generieren, um unzählige Datensätze zu verarbeiten. Die KI von Tesla wird mit Video-Schnipseln aus mittlerweile fünf Millionen Fahrzeugen gefüttert und trainiert.

Produktion und Nutzung von Materialien

In den kommenden Dekaden wandelt sich die Art, wie wir Materialien herstellen und welche Materialien wir verwenden, grundlegend. Weg von solchen Materialien, die auf frisch gefördertem fossilem Erdöl basieren – hin zu Materialien aus Recycling und Upcycling, aus natürlichen und biotechnologischen Prozessen.

Wandel der Mobilität

Fahrzeugbesitz wird uninteressant, weil immer mehr Menschen in Stadtregionen leben und Arbeit finden. Das Mobilitäts-Abo wird das eigene Auto ablösen. Städte werden wieder für Menschen attraktiv, nicht für Autos. So hat beispielsweise die Stadt Hannover gerade einen klaren Wandel verkündet: Die Innenstadt soll in dieser Dekade so umgebaut werden, dass es viel Freiraum für Fußgänger gibt – und Autos gezielt über wenige nutzbare Straßen in Parkhäuser gelenkt werden.

In den kommenden Dekaden ändert sich die Bedeutung der Städte und Metropolregionen grundlegend. Produktion und Verbrauch werden viel stärker individualisiert und vor allem: lokal stattfinden. Das verringert Transportbedarf. Wir transportieren eher den 3D-Drucker aufs offene Meer, der dort Windradflügel ausdruckt, als Windradflügel wochenlang durch die Gegend zu transportieren.

Generell läuft die Disruption des Automarktes und sowie angrenzender Märkte hin zu Elektromobilität. Dabei handelt es sich um einen Systemwechsel., weil Elektroautos besonders kompatibel mit einem Energiesystem auf Basis erneuerbarer Energien sind.

Aus Einzelsystemen wird ein gekoppeltes Gesamtsystem

Letztlich ändert sich alles, und obige Beispiele zeigen das nur in ganz kleinem Maße. Um es begreiflich zu machen: Aus vielen Einzelsystemen (Mobilität, Energie, Gebäude) wird ein eng verwobenes Gesamtsystem.

Die Abwärme der Fabrik um die Ecke beispielsweise wird verwendet, um die angrenzenden Gebäude mit Wärme zu versorgen – die Sektoren werden miteinander gekoppelt. Aus den Abfällen des Sägewerks werden Rohstoffe für die Produktion von Biogas oder Biokohle.

Genau dieser Wandel zum smarten Gesamtsystem, das in Kreisläufen denkt, macht unsere zukünftige Welt effizienter, sauberer, resilienter. Das ist es, was absolut erstrebenswert ist – und viele Städte und Regionen, die sich vor einem Jahrzehnt auf den Weg gemacht haben, profitieren heute schon massiv davon.

Es gibt keinen Weg mehr zurück in die fossile Welt.

Ganz egal, was Merz, Söder, Weidel oder Sinn mit seinem Grünen Paradoxon von sich geben. Der Grund ist einfach: In der heutigen, teilweise noch fossilen Welt, sind wir als Bundesrepublik schlicht nicht wettbewerbsfähig mit den USA und China. Wieso? Weil billiges Erdgas durch teures Flüssiggas ersetzt werden musste. Denn Putin war es, der uns im wahrsten Sinne des Wortes des Gashahn zugedreht hat. Und es ist ziemlich Einerlei für die Beschreibung der Lage, wer die Nord Stream Pipeline in die Luft gesprengt hat.

Aber die gute Nachricht ist: Wird voll auf Transformation und im Energiesektor auf erneuerbare Energien gesetzt, dann sind ist Europa wettbewerbsfähig mit den USA und China. Bedeutet: Europas grüner Stahl ist künftig sowohl für den EU-Binnenmarkt als auch für die anderen Weltregionen interessant. Gut, dass sich ganz viele der etablierten Stahlkonzerne auf den Weg gemacht haben, ihr Geschäft im Sinne der grünen Transformation umzubauen.

Aber, und das ist die Warnung: Es ist ein Wettlauf. Das Tempo, in dem etwa die Chinesen erneuerbare Energien ausbauen, ist atemberaubend. Sie machen das nicht aus rein ökologischen Gründen, sondern vorwiegend aus ökonomischem Interesse. Die Chinesen wissen genau, dass auch sie Produkte mit erneuerbaren Energien herstellen müssen, damit sie auf den Weltmärkten eine Chance haben. Ohne Transformation kann China keine Supermacht werden. So viel Gewicht haben erneuerbare Energien, hat die grüne Transformation.

Neue Industrie siedelt sich dort an, wo die Rahmenbedingungen besonders gut sind – u.a. günstige erneuerbare Energien vorhanden sind. Die neue Welt, sie ist erneuerbar. Das grüne Paradoxon nur die Idee eines Professors?

Die Klimaschmutzindustrie versucht lediglich, den Wandel noch etwas zu verzögern. Es ist eine Welt voller smarter Lösungen. Voller Inspiration und Prosperität. Denn billige Energie und günstige Arbeit bilden die Grundlage für neue Geschäftsmodelle, die grün und klimafreundlich sind. Der Wandel sorgt auch für eine geopolitische Zeitenwende – neue Regionen werden mächtiger, wie etwa Singapur oder Israel. Singapur hat als erstes Land der Welt zellkultiviertes Fleisch zugelassen. Und Israel hat eine Startup-Kultur, die eine Vielzahl von Cleantech-Unternehmen hervorgebracht hat, die beispielsweise auch Clean Meat herstellen.

Transformation kann schmerzhaft sein. Aber wir leben in der Zeit des größten Wandels, den die Menschheit jemals erlebt hat. Wir können den Wandel, der unaufhaltsam ist, gestalten oder wir können als Europäer zusehen , wie es Andere tun.

Let’s go. Es lohnt sich.

Lassen wir Leute wie Hans-Werner Sinn und andere Experten ihre Thesen wie Das Grüne Paradoxon verbreiten. Deren Positionen aber unter Berücksichtigung des Wandels einzuordnen, macht aus meiner Sicht ganz viel Sinn. Der Fokus sollte darauf liegen, die grüne Transformationen und das Innovationsrennen mit anderen Wirtschaftsregionen zu gewinnen. Investitionen in die Zukunftsfelder sind dafür entscheidend, wie auch Ottmar Edenhofer im Spiegel-Interview sagt: „Und was die Subventionen betrifft, sollten wir weniger alte Industriestrukturen und mehr strategische Zukunftsfelder in den Blick nehmen, so wie es uns die USA beim IRA vormachen: Windkraft, Wasserstoff, E-Fuels, Batterien, Kohlenstoffabscheidung.“

Das grüne Paradoxon zerschellt aus meiner Sicht als Theorie von Hans-Werner Sinn letztlich an der Realität. Dies wird in den kommenden Dekaden deutlich werden. Die grüne Transformation ist stärker als das grüne Paradoxon…

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.