Klimakatastrophe zulassen = Verfassungsbruch? Forderungen der Wissenschaft an die Bundesregierung

60 Verfassungs- und Völkerrechtler geben „Letzte Generation“ Recht und fordern zu effektiven Maßnahmen gegen die Erderwärmung auf.

Hat die „Letzte Generation“ Recht, wenn sie schreibt: „Klimakatastrophe zulassen = Verfassungsbruch„? Ja, sagen führende Verfassungs- und Völkerrechtler, die sich ausdrücklich als „nicht zugehörig“ zur Klimaaktivisten-Gruppierung beschreiben. In einem offenen Brief fordern sie eine fachbezogene Debatte und die Bundesregierung eindringlich dazu auf, die geplante Novelle des Klimaschutzgesetzes nicht zu verabschieden. Stattdessen solle die Bundesregierung effektive Maßnahmen gegen die Erderwärmung ergreifen.

Das Bundesverfassungsgericht, so schreiben die derzeit etwa 60 Professoren aus den Bereichen Verfassungs- und Völkerrecht, hab im März 2021 klargestellt, dass das Grundgesetz zu wirksamen Maßnahmen gegen die Erderwärmung verpflichtet. Diese Pflicht gelte auch gegenüber zukünftigen Generationen, deren Möglichkeiten, ihre Freiheitsrechte auszuüben, ohne entsprechende Maßnahmen erheblich beeinträchtigt würden. Andernfalls sei von einem Verfassungsbruch zu sprechen.

Völkerrechtlich hat sich Deutschland konkret zu wirksamen Maßnahmen verpflichtet, um den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2° C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, ihn auf 1,5° C zu begrenzen. Neben Deutschland haben sich 194 weitere Staaten durch die Ratifikation des Übereinkommens von Paris von 2015 zu diesem Ziel bekannt und dadurch deutlich gemacht, dass ein globaler Konsens besteht.

Diese Verpflichtung habe das Bundesverfassungsgericht als Konkretisierung des in Artikel 20a Grundgesetz verankerten Klimaschutzziels angesehen und so die Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben verfassungsrechtlich abgesichert.

Berichte über Extremwetterereignisse in allen Erdteilen haben uns in den letzten Wochen noch einmal deutlich vor Augen geführt, welche Folgen die Klimaveränderung haben wird. Darum sind energische und wirksame Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes von größter Wichtigkeit für die Erhaltung der Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens.

Hierfür sind im Bundes-Klimaschutzgesetz konkrete Ziele sowie Mechanismen festgelegt, mit denen die schrittweise Erreichung dieses Zieles gewährleistet werden soll. Gegenwärtig ist aber eine Novelle geplant, die die sektorspezifischen Ziele schwächt. Damit seien nach Auffassung der Jura-Professoren die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in Gefahr, die verlangen

dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln.“

„Anliegen der Letzte Generation sind legitim“

Die Unterzeichner, zu denen u.a. Prof. Markus Krajewski (Uni Nürnberg-Erlangen) gehört, sind nach eigener Aussage weder Mitglieder noch Unterstützter der „Letzten Generation“. Nach inhaltlicher Analyse bezeichnen sie die verkürzt auf die Formel „Klimakatastrophe = Verfassungsbruch“ gebrachte Aussage der Klimaschützer als legitim. „Die Bundesregierung muss sich an die Verfassung halten. Und ein verbesserter Klimaschutz ist Vorgabe der Verfassung“, so Prof. Krajewski gegenüber t-online.

Zu den weiteren Unterzeichnern zählen auch Prof. Felix Ekardt und Prof. Remo Klinger, die das bahnbrechende Urteil zum Klimaschutzgesetz im April 2021 entscheidend vorangetrieben hatten (Bericht von Cleanthinking zum Urteil des BVerfG). Mit dem offenen Brief wollen die Juristen eine fachliche Diskussion anreizen und die aktuelle Debatte in konstruktivere Bahnen lenken.

Denn die Auseinandersetzungen und fachwissenschaftlichen Debatten zum Klimaschutz würden derzeit von Diskussionen über bestimmte Protestformen, wie z.B. Straßenblockaden, überlagert. Dabei seien insbesondere Forderungen nach einer Verschärfung straf- und polizeirechtlicher Reaktionen beunruhigend und in vielen Fällen verfassungsrechtlich fragwürdig, denn das Versammlungsrecht schütze auch Protestformen, die disruptiv wirken und von der Mehrheit als Störung empfunden werden.

Vor allem aber lenkten diese Debatten von den dringend nötigen Auseinandersetzungen über die konkrete Umsetzung der verfassungs- und völkerrechtlichen Klimaschutzpflichten und dem möglichen Verfassungsbruch der Ampel-Koalition unter Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz ab.

„Wir müssen aufhören, uns darüber zu streiten, ob die Aktionen der Aktivisten gerechtfertigt sind oder nicht. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, wie wir die Klimaproblematik zusammen angehen. Das ist das richtige Problem.“

Effektiver Klimaschutz statt Verfassungsbruch

Vor diesem Hintergrund fordern wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Verfassungs- und Völkerrechts die gesetzgebenden Organe des Bundes auf, das Klimaschutzgesetz nicht abzuschwächen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein effektives Klimaschutzprogramm mit ausreichenden Maßnahmen zur Einhaltung der Klimaschutzziele und damit der völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu beschließen.

Eine medienwirksame Übergabe des offenen Briefes, etwa an den Bundeskanzler Olaf Scholz, soll es indes nicht geben. „Uns geht es um den Fachdiskurs. Außerdem hat die Regierung auch ihre Experten. Die werden das auch so wahrnehmen.“

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

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