Forscher warnen vor Zersplitterung des Thwaites Gletschers in der Antarktis

In einigen Jahren könnte das Schelfeis vor dem Gletscher des jüngsten Gerichts zersplittern und einen deutlichen Anstieg des weltweiten Meeresspiegels auslösen.

Die Auswirkungen des Klimawandels und der Erderwärmung werden immer sichtbarer. Wissenschaftler gehen mittlerweile davon aus, dass mehrere sogenannter Kipppunkte erreicht sind – oder deren Erreichung unmittelbar bevorsteht. Dabei geht es unter anderem um auftauende Permafrostböden, die große Mengen Methan freisetzen oder schmelzende Gletscher auf Grönland oder der Antarktis. Von dort kommen die neuesten Horrornachrichten: Der größte Gletscher der Welt, der Thwaites Gletscher, wird zunehmend destabilisiert, weil das Schelfeis in den kommenden Jahren auseinanderbrechen könnte.

Der Gletscher Thwaites liegt in der Westantarktis, mündet östlich in die Pinienbucht („Pine Island Bay“) und trägt einen unheilvollen Spitznamen: Gletscher des jüngsten Gerichts („Doomsday Glacier“). Zusammen mit dem Pinienbucht-Gletscher wird der Thwaites Gletscher zum schwachen Unterbauch des Westantarktischen Eisschildes gezählt. Würde dieser Gletscher vollständig kollabieren und schmelzen, würde der Meeresspiegel um 65 Zentimeter ansteigen – und zwar global, alle Ozeane betreffend. Selbst für einige deutsche Küstenstädte hätte das Folgen.

Der Thwaites Gletscher in der Antarktis ist größer als Tschechien, Österreich und die Schweiz zusammen, schon jetzt schmilzt er ab und ist damit für vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich.

Die verdammt schlechte Nachricht ist: Glaziologen haben Risse in der Eisplatte beobachtet, die wie ein Korken vor der Mündung des riesigen Thwaites Gletscher angeordnet ist. Die Experten sagen den Kollaps dieses Schelfeises innerhalb von drei bis fünf Jahren voraus. Dies ist das Ergebnis aktueller Satellitenmessungen: Die Risse sind kilometerlang und durchziehen sich durch das Schelfeis.

Vorgebracht wurden die neuen Erkenntnisse bei der Jahrestagung der Amerikanischen Geophysikalischen Union in New Orleans Mitte Dezember 2021. Es handelt sich um die gebündelt zusammengetragenen Erkenntnisse von mehr als 100 Wissenschaftlern, die die komplexen Effekt und Veränderungen des Thwaites Gletschers in den vergangenen Jahren untersucht haben. Es geht hier ausdrücklich nicht um Einzelerkenntnisse eines oder weniger Wissenschaftler. Im Gegenteil. Die Aussagen sind höchst valide einzuschätzen.

Zersplittert dieser vorgeschobene Teil des Thwaites Gletscher, verschwindet eine wesentliche Barriere, die bislang den Anstieg des weltweiten Meeresspiegels bremst. Allein der Gletscher hat eine Gesamtfläche von 192.000 Quadratkilometern. Ein Drittel davon ist jenes Schelfeis, also die Verlängerung des Gletschers ins Meer, wobei das Eis nicht mit dem Meeresboden verbunden ist. Allein diese Fläche des Schelfeises ist doppelt so groß wie Belgien.

Schelfeis des Thwaites Gletscher unterspült

Das Kernproblem ist, dass das Schelfeis von wärmerem Meerwasser unterspült wird. Dadurch wird es von unten abgeschmolzen. Die Folge sind die kilometerlangen Risse. Die Forscher vergleichen die aktuell dramatische Situation mit der einer Frontscheibe eines Autos: Diese reißt zunächst an einer Stelle, verliert sie die Stabilität breiten sich die Risse in alle Richtungen aus. So könnte das Schelfeis des Gletschers in den kommenden Jahren in zahllose Eisberge zerfallen. Die Folge: Der Rest des Gletschers, der überirdisch und damit Meeresspiegel-steigernd wirkt, fließt anschließend dreimal schneller ins Meer ab, als bislang beobachtet. In den vergangenen 30 Jahren hatte sich das Tempo dieses Abschmelzens verdoppelt.

Im „günstigsten Fall“ steigt der Meeresspiegel im Anschluss um etwa ein Prozent. Langfristig, also etwa bis 2100, würde das einen Anstieg von 65 Zentimetern bedeuten. Aber: Der Gletscher wirkt wie ein Korken, ein Stöpsel. Schmilzt er, rutschen auch benachbarte Gletscher in sein Becken und schmelzen ebenfalls. Da die Ozeantemperaturen weit höher sind als zum Zeitpunkt der Entstehung der Gletscher, ist es ein Einbahnstraßen-Prozess: Es folgt kein natürlicher Wiederaufbau des Eisanteils.

Meeresspiegel-Anstieg um 3,30 Meter möglich

Im Extremfall kann dadurch das gesamte Eis der Westantarktis verschwinden. Schrittweise und sehr langfristig zwar, aber mit der Folge eines Meeresspiegel-Anstiegs von 3,30 Metern. Viel zu viel für Städte wie Bremerhaven oder sogar Hamburg. Und natürlich viele andere Küstenstädte weltweit.

Wie sehr die neuen Erkenntnisse die Forscher selbst mitnehmen, zeigt auch das Interview von CBS mit einem der Forscher, David Holland (New York University):

Zur Einordnung: Das das Zersplittern des Gletschers passiert und der Thwaites-Gletscher schmilzt, wurde vom Weltklimarat IPCC in diesem Jahr noch als „unwahrscheinlich“ bezeichnet. Trotzdem warnten die Wissenschaftler vor „Ice Sheet Instability“. Diese Instabilität kommt nun aller Wahrscheinlichkeit nach viel, viel schneller als jemals vorhergesagt.

Aber die entdeckten Risse sind nicht nur auf Satellitenbildern zu sehen. Um näher an den schwer zugänglichen Gletscher heranzukommen, gründete sich 2018 die Thwaites Glacier Collaboration. Das Forschungsprojekt durchbohrte im 2020 das Schelfeis, dort wo der Gletscher etwa 600 Meter dick ist. Durch das Bohrloch wurde ein Tauchroboter heruntergelassen, der das Schelfeis in den Tiefen des Ozeans erkundete, Fotos machte und Messdaten aufzeichnete. Diese Erkenntnisse machten deutlich: Warmes Tiefenwasser unterspült das Schelfeis und schmilzt von unten. Dadurch weicht die Grundlinie immer weiter zurück, die Schelfeisplatte dünnt aus und wird instabil.

50 Kilometer Riss in einer Minute

Durch lange Risse ändern sich die Spannungsverhältnisse – wenn die Spannungen zu groß werden, bricht es wie die Frontscheibe des oben beschriebenen Autos schlagartig. Um die Dimensionen klar zu machen: 50 Kilometer Riss entstehen mit einem Drittel Schallgeschwindigkeit innerhalb von nur einer Minute. Bereits jetzt kippt der Gletscher jährlich 50 Milliarden Tonnen Eis in das Meer, was aber eine geringe Auswirkung auf den Meeresspiegel hat.

Die Entwicklung rund um den Thwaites-Gletscher in der Antarktis ist definitiv besorgniserregend. Sie zeigt, dass sich die Menschheit am Übergang in eine Phase befindet, in der die Klimakrise von Faktoren geprägt wird, auf die die Menschheit keinen Einfluss hat. Doch, ganz wie im Leonardo DiCaprio-Film „Don’t Look Up“ erscheinen kurzfristige Probleme relevanter als die die Zivilisation bedrohende Klimakrise.

Neue Forschung: Thwaites Gletscher schmilzt und bricht auf

Der auch oft als Doomsday-Gletscher, Gletscher des Jüngsten Gerichts oder Weltuntergangs-Gletscher bezeichnete Thwaites schmilzt nach neuen Erkenntnissen anders als angenommen. Forscher reisten Ende 2019 in die Westantarktis und bohrten mit heißem Wasser ein 600 Meter tiefes Loch ins Schelfeis des Gletschers. Über fünf Tage schickten sie Sonden runter, um Messungen durchzuführen. Zu den Instrumenten zählte auch ein „torpedoförmiger Roboter“, der auf den Namen Icefin hört. So entstanden etwa Fotos und Informationen über den Salzgehalt.

Zwei Ergebnisse veröffentlichten sie jetzt in zwei Studien in Nature.

Einerseits schmilzt der Doomsday-Gletscher „nur“ mit einer Schmelzrate von zwei bis fünfeinhalb Metern pro Jahr. Rechenmodelle gingen von 10 bis 100 Metern aus. Der Grund ist wahrscheinlich eine Kaltwasserschicht unter dem Schelfeis.

Andererseits zeigten die Fotos, dass die Gletscherlandschaft unter Wasser vielfältiger ist als erwartet. Spalte, große Rissen wurden fotografiert. Und: An diesen Stellen schmilzt das Eis besonders schnell. Die Begründung: Durch die Risse und Spalten kommt warmes, salzhaltiges Wasser dazu, dass diese Aufbruchstellen vergrößert. Der Gletscher wird zuhends destabilisiert.

„Der Thwaites schmilzt nicht nur, sondern bricht auch auf“, erklärt Britney Schmidt, Hauptautorin einer der Studien, gegenüber CNN. Laut den Studienautoren könnte das Schmelzen des Eises entlang der gefundenen Risse und Terrassen der Hauptauslöser für den Zusammenbruch des Schelfeises sein.

Die Weltgemeinschaft muss jetzt sich konsequent auf den Weg machen, die ökologische Transformation hinzubekommen: Mit dem Ausstieg aus Verbrennung fossiler Ressourcen und Erneuerbarer Energien an vorderster Stelle. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Daneben müssen wenige, weitere Bereiche im Zentrum stehen. Die neuen Erkenntnisse bestätigen das Ausrufen der Alarmstufe Rot für die Erde. An raschem Handeln führt kein Weg mehr vorbei.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.

Klima