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Klimahaftung konkret: ETH-Studie macht fossile Konzerne für tödliche Hitzewellen mitverantwortlich
Zum ersten Mal gelingt es Wissenschaftler*innen, tödliche Hitzewellen direkt auf Emissionen einzelner Konzerne zurückzuführen.
Tödliche Hitzewellen sind die sichtbarste Folge der Erderhitzung: Seit 2000 haben sie hunderttausende Menschen das Leben gekostet, Infrastruktur zerstört und Ökosysteme überfordert. Was bedeutet das für die Klimahaftung? Eine im September 2025 in „Nature“ erschienene Studie von Forschenden der ETH Zürich geht nun weiter als alle bisherigen Untersuchungen: Sie weist nicht nur nach, dass der Klimawandel Hitzewellen wahrscheinlicher und intensiver macht – sie zeigt erstmals quantitativ auf, wie stark die Emissionen einzelner Unternehmen konkret dazu beigetragen haben. Die Brisanz ist kaum zu unterschätzen: Die Erkenntnisse könnten Klimaklagen erleichtern, politische Verantwortung verschieben und eine neue Ära der Klimagerechtigkeit einleiten.
Attributionsforschung auf neuem Niveau: Methodik und Datengrundlage
Die Studie stützt sich auf 213 als „katastrophal“ eingestufte Hitzewellen zwischen 2000 und 2023, die in der globalen Katastrophendatenbank EM-DAT verzeichnet sind. Diese Ereignisse wurden mithilfe sogenannter probabilistischer Attributionsmodelle analysiert. Dabei simulierten die Forscher*innen Tausende Klimawelten – mit und ohne menschliche Emissionen – und verglichen die Wahrscheinlichkeit und Intensität der realen Ereignisse.
Hinzu kam eine umfangreiche Emissionsdatenbank: Die Emissionen von 180 fossilen Energie- und Zementunternehmen (sogenannte „Carbon Majors“) von 1850 bis 2023 wurden erfasst, inklusive indirekter Emissionen durch Nutzung der verkauften Produkte (Scope 3).
Durch Koppelung dieser Daten mit dem Erdmodell OSCAR konnten die Autor*innen ermitteln, welchen Anteil diese Emissionen am Temperaturanstieg und an der Veränderung der Ereigniswahrscheinlichkeiten haben.
Die leitende Studienautorin, die ETH-Professorin Sonia Seneviratne erhält übrigens in Kürze als erste Schweizerin den renommierten Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt.
Kernergebnisse: Ein Drittel der Hitzewellen ohne ExxonMobil, Aramco & Co. undenkbar
Die Ergebnisse sind in ihrer Deutlichkeit rund um das Thema Klimahaftung kaum zu überbieten:
- Alle 213 untersuchten Hitzewellen wurden durch den Klimawandel wahrscheinlicher und intensiver.
- Im Zeitraum 2010-2019 waren Hitzewellen im Mittel 200-mal wahrscheinlicher als ohne menschengemachten Klimawandel.
- Ein Viertel der Ereignisse (55 von 213) wären ohne menschliche Emissionen praktisch unmöglich gewesen.
- Die mittlere Temperaturerhöhung bei den Hitzewellen betrug 1,7 Grad Celsius – etwa die Hälfte davon ist direkt auf die Emissionen der untersuchten Konzerne zurückführbar.
Besonders eindrücklich ist die Einzelverantwortung:
- Die 14 größten Carbon Majors – darunter Saudi Aramco, ExxonMobil, Gazprom, Shell, BP, Coal India – sind jeweils für mehr als 50 Hitzewellen mitverantwortlich.
- Selbst kleinere Unternehmen wie Elgaugol (Russland) oder RWE (Deutschland) sind laut Analyse für mindestens 16 Ereignisse mitverantwortlich.
- Die Emissionen von ExxonMobil etwa machten 51 Hitzewellen mindestens 10.000-fach wahrscheinlicher.

Beispiel Klimahaftung: Die Hitzewelle im pazifischen Nordwesten 2021
Die berüchtigte Hitzekuppel über Kanada und dem US-Bundesstaat Oregon im Juni 2021 führte zu Temperaturen von über 49 °C und forderte mehr als 1.000 Todesopfer. Die neue Studie zeigt: Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis war durch den Klimawandel mehr als 10.000-fach erhöht.
Im Mittel trugen die Emissionen der 14 größten Konzerne rund 0,9 Grad Celsius zur Intensität bei. Damit wurde ein signifikantes Risikolevel überschritten, das viele bestehende Infrastrukturen nicht mehr bewältigen konnten.
Juristische Dynamik: Neue Basis für Klimaklagen weltweit
Mit dieser Studie zur Klimahaftung verändert sich auch das juristische Spielfeld. Schon jetzt laufen Dutzende Klimaklagen gegen fossile Konzerne in den USA, Europa und dem Globalen Süden. Doch ein wiederkehrendes Problem war die Beweisführung: Wie lassen sich Emissionen einzelner Firmen mit konkreten Schäden in Verbindung bringen?
Die ETH-Studie liefert nun genau diese Verbindung – wissenschaftlich belastbar, modellbasiert und statistisch abgesichert. Dr. Rupert Stuart-Smith (Oxford Law Program) nennt die Studie eine „zentrale Grundlage für fundierte rechtliche Bewertung individueller Haftung“. Auch Karsten Haustein (Uni Leipzig) betont: „Das ist ein Durchbruch. Die Wissenschaft liefert jetzt das, was Gerichte brauchen.“
Bereits 2025 führte die Familie eines Hitzetoten aus Washington State eine Zivilklage gegen ExxonMobil und andere Konzerne – mit Verweis auf die Ergebnisse dieser Studie. Parallel läuft in Deutschland ein Verfahren gegen RWE, das von einem peruanischen Bauern angestoßen wurde.
Politische Implikationen: Loss & Damage und internationale Verantwortung
Neben juristischen Konsequenzen hat die Studie auch politische Tragweite:
- In internationalen Klimaverhandlungen könnten Loss-&-Damage-Forderungen gezielter an große Emittenten adressiert werden.
- Der Fokus auf Konzerne statt auf Staaten erlaubt eine differenziertere Lastenverteilung.
- Auch Steuer- und Handelsinstrumente könnten auf Basis dieser Erkenntnisse neu justiert werden (z. B. Carbon Border Adjustment Mechanisms).
Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (ICJ) von Juli 2025 unterstreicht die Möglichkeit, Emissionsverursachern auch völkerrechtlich Verantwortung zuzuschreiben. Die Studie könnte zum Referenzfall für künftige Entscheidungen werden.
Bewertung: Speed & Scale-Potenzial für strukturellen Wandel?
Im Sinne der Speed-&-Scale-Logik nach Johan Rockström könnte die Studie ein Katalysator für strukturelle Transformationen sein:
- Skalierbarkeit: Die Methodik lässt sich auf weitere Extremereignisse wie Starkregen, Dürren oder Tropenstürme ausweiten. Die Autor*innen haben bereits entsprechende Arbeiten angekündigt.
- Tempo: Durch die hohe Medienresonanz und juristische Verwendbarkeit könnte der Druck auf fossile Konzerne schneller steigen als bisher.
- Systemwandel: Die Erkenntnisse könnten regulatorische Eingriffe wie CO2-Grenzwerte, Klimasteuern oder Divestment-Kampagnen neu legitimieren.
Fazit
Die Studie von Seneviratne, Quilcaille et al. ist ein Meilenstein der Klimafolgenforschung. Sie zeigt: Nicht nur „die Menschheit“ oder Staaten tragen Verantwortung für die Eskalation der Klimakrise, sondern auch konkret benennbare Unternehmen – mit quantifizierbarem Schaden.
Damit verschiebt sich die Debatte von moralischer Appellrhetorik hin zu haftungsfähiger Verantwortung. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Wissenschaft, Justiz und Politik bereit sind, daraus Konsequenzen zu ziehen.