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Industrielle Energieeffizienz: 250 Mrd. Euro Einsparpotenzial ungenutzt
Die deutsche Industrie könnte 40 Prozent ihres Energiebedarfs wirtschaftlich einsparen – doch Hemmnisse blockieren die Umsetzung.
Während Politik und Wirtschaft über Strompreise, Industrieabwanderung und die Zukunft des Standorts Deutschland debattieren, liegt die Lösung für einen Teil der Probleme direkt vor den Unternehmen: Industrielle Energieeffizienz. Eine neue Kurzstudie von Bellona, Umweltinstitut München und Deutscher Umwelthilfe zeigt ein enormes ungenutztes Potenzial insbesondere im Hinblick auf Prozessenergie – mit Zahlen, die aufhorchen lassen.
263 Terawattstunden: Das ungehobene Einsparpotenzial
Die Zahlen sind beeindruckend: Von den 635,4 Terawattstunden (TWh) Endenergiebedarf der deutschen Industrie (Stand 2023) können 263 TWh/a durch wirtschaftliche Maßnahmen eingespart werden – das sind rund 40 Prozent. Davon entfallen 209 TWh auf den Bereich Wärme und 54 TWh auf Stromanwendungen außerhalb der Wärmebereitstellung.
„Energieeffizienz leistet einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des Industriestandortes Deutschland„, konstatiert die Studie „Volkswirtschaftliche und betriebwirtschaftliche Bewertung der Energieeffizienz in der Industrie“. Die wirtschaftliche Endenergieeinsparung würde 2025 eine Kosteneinsparung von etwa 29 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten.
Noch bemerkenswerter: Ein großer Teil dieser Maßnahmen sind sogenannte „marktnahe Maßnahmen“ mit Amortisationszeiten von weniger als drei Jahren. Diese Einsparung beläuft sich auf etwa 28 Prozent oder 176 TWh/a – aufgeteilt in 134 TWh im Bereich Wärme und 42 TWh für Stromanwendungen.

104 Milliarden investieren, 250 Milliarden zurückerhalten
Die für die Umsetzung notwendige Investitionssumme wird mit insgesamt 104 Milliarden Euro beziffert – was eine mittlere Amortisationszeit von 3,6 Jahren ergibt. Zur Einordnung: Die gesamten Nettoinvestitionen in Deutschland bewegten sich in den zehn Jahren vor 2024 zwischen 51 und 122 Milliarden Euro pro Jahr.
Doch die Rechnung lohnt sich: Kumuliert über die nächsten 20 Jahre beträgt die gesamte Einsparung bei dem in der Studie beschriebenen Investitionspfad etwa 250 Milliarden Euro – mehr als das Doppelte der Investitionssumme. Bereits im Jahr 2029 würde die jährliche Energiekosteneinsparung die prognostizierte Investitionssumme für dieses Jahr übersteigen.
Konkrete Maßnahmen: Von Dämmung bis Wärmepumpe
Die typischen Energieeinsparmaßnahmen sind vielfältig und reichen von einfachen organisatorischen Anpassungen bis zu größeren Investitionen. Bei den niedriginvestiven Maßnahmen steht verbessertes Nutzerverhalten an erster Stelle, gefolgt von optimierter Steuerung und Regelung – auch mit KI-Ansätzen. Hinzu kommen klassische Betriebs- und Wartungsmaßnahmen sowie die Dämmung von Rohrleitungen, Armaturen und Maschinen.
Bei den größeren Investitionen bildet die Abwärmenutzung durch Wärmerückgewinnung das größte Einzelpotenzial. Weitere wichtige Maßnahmen sind Antriebe mit Drehzahlregelung, der Einsatz hocheffizienter Motoren, die Nutzung von Umweltwärme insbesondere über Wärmepumpen sowie die Anlagenerneuerung mit energieeffizienten Neuanlagen.
Besonders bedeutsam: Die Elektrifizierung von Prozessen macht etwa 20 Prozent der Energieeinsparmenge im Bereich Wärme aus. Die Umstellung auf Wärmepumpen ist besonders im Wärmebereich bis 200 °C eine wichtige Maßnahme und kann zu Einsparungen von 50 bis 85 Prozent pro Maßnahme führen.
Prozesswärme und Abwärme: Die größten Hebel
Die Studie zeigt, dass insbesondere der Bereich Prozesswärme mit 426 TWh (67 Prozent des Gesamtenergiebedarfs) und „Motion“ (Pumpen, Ventilatoren, Maschinen etc.) mit 122 TWh (19,2 Prozent) die größten Einsparpotenziale bieten.
Den größten Teil der wirtschaftlichen Einsparungen im Bereich Prozesswärme erzielen Dämmungsmaßnahmen und vor allem die betriebliche Nutzung von Abwärme durch Wärmerückgewinnung.
Zur Einordnung: Die 209 TWh Einsparung im Bereich Prozesswärme haben eine ähnliche Größenordnung wie die 243 TWh, die bis Juli 2025 von über 3.000 Firmen auf der Plattform für Abwärme gemeldet wurden. Die Zahlen sind jedoch nicht direkt vergleichbar, da auf der Plattform nur geführte Abwärmemengen über bestimmten Schwellenwerten erfasst werden, während die Studie alle wirtschaftlich nutzbaren Abwärmemengen berücksichtigt.
Volkswirtschaftlicher Nutzen: 30 Milliarden zusätzlich
Neben den betriebswirtschaftlichen Einsparungen identifiziert die Studie erhebliche volkswirtschaftliche Vorteile. Besonders bedeutsam ist der reduzierte Kraftwerksbedarf: Energieeffizienzmaßnahmen reduzieren nicht nur den Bedarf, sondern auch die Spitzenlast.
Wenn 10 Gigawatt weniger Gaskraftwerke bis 2045 gebaut werden müssen, würde sich der Investitionsbedarf um etwa 10 Milliarden Euro reduzieren. Hinzu kommen vermiedene Erdgasimportkosten von etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr – kumuliert über 20 Jahre ein volkswirtschaftlicher Nutzen von 30 Milliarden Euro allein bei den Gaskraftwerken.
Die Studie betont zudem den Beitrag zur Versorgungssicherheit durch reduzierten Importbedarf fossiler Energieträger: „Investitionen in Energieeffizienz verlagern Kapitalflüsse aus dem Ausland (z.B. für Förderung und Transport von Erdgas) ins Inland.“
Weitere positive Effekte umfassen mehr Arbeitsplätze in Deutschland, die Aufwertung des Kapitalstocks, die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, die Beschleunigung des technischen Fortschritts sowie die Vermeidung von Strafzahlungen für nicht erreichte Klimaziele.
Energieintensive Industrie: Hohes Potenzial trotz Sonderstatus
Die sogenannte „energieintensive Industrie“ – Branchen wie Chemie, Metall, Papier, Zement, Glas – ist für 81 Prozent (514 TWh/a) des Endenergiebedarfs der deutschen Industrie verantwortlich. Die Ergebnisse sind daher sehr vergleichbar mit denen der Gesamtindustrie.
Die Studie kritisiert die uneinheitliche Definition von „energieintensiv“ und schlägt vor, Schwellenwerte entsprechend der nachgewiesenen Endenergieeinsparung individuell anzupassen: „Der Schwellenwert würde entsprechend der nachgewiesenen Endenergieeinsparung individuell reduziert.“ So würde vermieden, dass Unternehmen durch Effizienzmaßnahmen aus Förderungen herausfallen.
Beispiel Ernährungsindustrie: Überproportionales Potenzial
Die branchenspezifische Betrachtung der Ernährungsindustrie zeigt überproportional hohes Potenzial: 11 Prozent der möglichen Energieeinsparungen der Gesamtindustrie, obwohl der Sektor nur 7 Prozent des Endenergieverbrauchs ausmacht.
Von den 47 TWh/a Endenergiebedarf der Branche können 29 TWh/a wirtschaftlich eingespart werden – ebenfalls rund 40 Prozent. Ein wichtiger Grund ist der hohe Anteil an Wärmeanwendungen im Niedertemperaturbereich, in dem Wärmepumpen gut eingesetzt werden können. Etwa 5,2 TWh/a (20 Prozent des Potenzials) können allein durch Wärmepumpen eingespart werden.
Die Hemmnisse: Warum wird so wenig umgesetzt?
Obwohl die Maßnahmen in vielen Unternehmen bekannt sind und wirtschaftlich attraktiv wären, gibt es erhebliche Hemmnisse. Auf betrieblicher Ebene sind dies vor allem fehlende Personalkapazitäten – der häufigste Grund –, Liquiditätsbeschränkungen sowie die Präferenz für kurze Amortisationszeiten statt fundierter Kapitalwertbetrachtungen. Hinzu kommen fehlende Motivation und Akzeptanz sowie mangelndes Wissen über konkrete Maßnahmen.
Strukturelle Hemmnisse liegen außerhalb des Einflussbereichs einzelner Unternehmen. Hier spielt der unstetige politische Regulierungsrahmen eine zentrale Rolle. Auch Eigentumsstrukturen erschweren Investitionen, insbesondere bei KMUs in gemieteten Gebäuden – das bekannte „Vermieter-Mieter-Dilemma“.
Die Studie stellt klar: „Da im Markt für Energieeffizienz offensichtlich ein Marktversagen vorliegt, d.h. es bisher nicht zu einem effizienten Marktergebnis gekommen ist, sollte eine offene Diskussion darüber geführt werden, wie zusätzliche staatliche Unterstützung Energieeffizienz fördern könnte.“
Subventionen: 50 Milliarden im Energiebereich – falsch eingesetzt?
Eine brisante Erkenntnis der Studie betrifft die aktuelle Subventionspraxis: Von den geplanten 77,8 Milliarden Euro Bundessubventionen für 2026 entfallen über 50 Milliarden auf den Energiebereich – davon 42 Milliarden als Finanzhilfen und 7,7 Milliarden als Steuervergünstigungen.
Allein die Zuschüsse zur Entlastung beim Strompreis (EEG) schlagen mit 17,2 Milliarden Euro zu Buche, die Stromsteuerbegünstigung für Unternehmen mit 2,5 Milliarden Euro. Zusammen machen diese beiden Positionen etwa die Hälfte aller Finanzhilfen des Bundes aus.
Die Studie macht einen provokanten Vorschlag: „Ein naheliegender Vorschlag wäre, die Vergünstigungen und Zuschüsse zu Energiekosten zu streichen und die freiwerdenden Mittel auf die Energieeffizienzfördermaßnahmen zu verteilen. Dies hätte den Charme, dass keine zusätzlichen Bundesmittel aufgewendet werden müssten.“
Allerdings räumen die Autoren ein, dass dies die Elektrifizierung industrieller Prozesse zurückwerfen könnte. Eine Umschichtung sollte sich daher auf Subventionen fossiler Energien beschränken – doch diese fallen mit nur 0,8 Milliarden Euro jährlich kaum ins Gewicht.
Dennoch: Während einerseits Energieeffizienzmaßnahmen gefördert werden (Bundesförderung für Energie- und Ressourceneffizienz: 1 Milliarde Euro), werden andererseits Zuschüsse zum Energieverbrauch gewährt – die „in entgegengesetzte Richtungen“ wirken.
Instrumente zur Überwindung der Hemmnisse
Die Studie listet konkrete Maßnahmen auf betrieblicher Ebene auf. Dazu gehört die offizielle Benennung von Energiebeauftragten durch die Geschäftsführung, Schulungen zur Befähigung der Verantwortlichen sowie Rahmenverträge mit Handwerksbetrieben. Auch alternative Umsetzungsmodelle wie „Druckluft kaufen“ statt einen Kompressor anzuschaffen können Hemmnisse überwinden. Zentral ist die konsequente Kapitalwertbetrachtung statt reiner Amortisationszeitrechnung.
Auf politischer Ebene werden verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Eingriffsintensitäten diskutiert. Leichtere Eingriffe wären verbesserte Abschreibungsbedingungen oder reduzierte Energiesteuersätze für Elektrifizierung. Stärkere Eingriffe umfassen direkte Zuschüsse für Investitionskosten oder strengere Auflagen für Energieeffizienzsenkungen.
Industrielle Energieeffizienz: Efficiency First als Standortvorteil
Die Studie zeigt eindringlich: Die größte ungenutzte Energiequelle Deutschlands liegt in der Effizienz. Mit 104 Milliarden Euro Investition über 20 Jahre könnte die Industrie nicht nur 250 Milliarden Euro einsparen, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit, zur Wettbewerbsfähigkeit und zum Klimaschutz leisten.
Die zentrale Botschaft: „Ohne günstige Elektrizität werden deutsche Werke nicht klimafreundlich werden können. Stattdessen werden sie dann dichtgemacht, und die Produkte muss das Land einführen. Das kostet Jobs – und schafft riskante Abhängigkeiten von Importen.„
Energieeffizienz ist keine Last, sondern eine Chance – sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich. Die Studie belegt: Die Investitionen rechnen sich bereits ohne Berücksichtigung der positiven externen Effekte. Mit diesen eingerechnet wird aus einer guten Investition eine hervorragende.
Die Frage ist nicht ob, sondern wann Deutschland dieses Potenzial Industrielle Energieeffizienz endlich hebt. Denn wie die Autoren schlussfolgern: Die Erschließung der Energieeffizienzpotenziale ist „ein ‚Muss‘ für jedes Unternehmen“ – und für die Zukunft des Industriestandorts Deutschland.
Kurzstudie „Volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Bewertung der Energieeffizienz in der Industrie“ von Bellona Deutschland, Umweltinstitut München und Deutsche Umwelthilfe, September 2025 Download der vollständigen Studie: https://umweltinstitut.org/wp-content/uploads/2025/10/Energieeffizienz_Kurzstudie-Bellona-UIM-DUH-HN.pdf