Tagesthemen / Evonik-CEO Kullmann
Warum Evonik-CEO Kullmann mit seinem ETS-Angriff den Wirtschaftsstandort gefährdet
Emissionshandel belohnt Effizienz und Innovation. Wer ihn schwächt, gefährdet Investitionen, Planungssicherheit und Zukunftsfähigkeit.
Als Evonik-Chef Christian Kullmann am 28. Oktober in den ARD-Tagesthemen stand und eine „Radikalreform“ des europäischen Emissionshandels forderte, war das mehr als nur ein weiterer Lobbyversuch. Es war eine Bankrotterklärung – nicht nur unternehmerisch, sondern strategisch. Kullmann steht stellvertretend für eine Garde von Managern großer Konzerne wie BASF, Voestalpine oder Thyssenkrupp, die die Transformation jahrzehntelang verschlafen haben und nun die Quittung für ihre Trägheit präsentiert bekommen.
Der Transformationsexperte Mario Buchinger hat Kullmanns Aussagen in seinem Podcast „Restart Thinking“ detailliert analysiert und kommt zu einem vernichtenden Urteil: „Leute wie Herr Kullmann haben von Wirtschaft nichts verstanden.“
Tatsächlich entlarvt das Interview ein fundamentales Problem deutscher Industrieführung: Manager, die in Quartalen denken, attackieren marktwirtschaftliche Instrumente, die langfristiges unternehmerisches Handeln belohnen.
Manager versus Unternehmer: Ein systembedingtes Problem
Der Unterschied zwischen Managern und Unternehmern wird in der ETS-Debatte überdeutlich. Buchinger formuliert es so: „Manager, die am Aktienkurs gemessen werden, fürchten steigende Kosten. Unternehmerinnen und Unternehmer, die an Zukunftsfähigkeit gemessen werden, sehen im CO₂-Preis einen Anreiz.“
Diese Kurzfristorientierung hat System. Börsennotierte Konzerne mit globalem Energiebedarf stehen unter dem Druck schneller Renditen. Ihre Führungskräfte haben meist Verträge über wenige Jahre und sind längst weitergezogen, wenn die Konsequenzen ihrer Fehlentscheidungen sichtbar werden.
Kullmann und Konsorten verkörpern genau diese Managerlogik: Sie wollen weiterhin kostenlos ihren Müll abladen – und die Allgemeinheit soll zahlen.
Der ETS: Marktwirtschaft in Reinkultur
Der europäische Emissionshandel (ETS) ist seit 2005 das marktwirtschaftlichste Instrument, das Europa je eingeführt hat. Das Prinzip ist schlicht: Wer Dreck macht, muss zahlen.
Unternehmen müssen Zertifikate kaufen (aktuell etwa 70 Euro pro Tonne CO₂), die Menge dieser Rechte wird kontinuierlich verknappt. Ab 2027 gilt ETS 2 für Gebäude und Mobilität – dort werden Preise zwischen 100 und 300 Euro erwartet.
Buchinger bringt es auf den Punkt: „Das ist genau das marktwirtschaftliche Instrument, was viele Leute ja immer rufen. Der Markt soll es regeln – hier ist er. Aber genau den wollen die gleichen Leute jetzt loswerden, weil der ihnen im Weg ist.“
Kullmanns Argumente – Buchingers Gegenrede
„Es ist eine neue Welt“
Kullmann: „Wir sind in einer neuen Welt und deshalb müssen wir handeln.“
Buchinger: „Bullshit. Die Regeln der Physik haben sich nicht verändert. Die Klimakrise ist seit 50 Jahren bekannt, die Notwendigkeit zur Transformation seit mindestens 20 Jahren. Der ETS existiert seit 2005 – 19 Jahre Vorlaufzeit. Was neu ist: Die Konkurrenz hat längst transformiert, während deutsche Konzerne an fossilen Geschäftsmodellen klebten.“
„Innovation statt Regulierung“
Kullmann: „Eine Gebühr hilft da wenig.“
Buchinger: „Kein Unternehmen hat den Katalysator freiwillig eingeführt. Das Glühbirnenverbot – was wurde dagegen hergezogen, aber heute ist LED kein Thema mehr. Ohne verbindlichen Rahmen passiert nichts. Wenn Kullmanns These stimmte, gäbe es keine Klimakrise – die Fakten sind seit 50 Jahren bekannt.“
Das Framing der „CO₂-Gebühr“
Kullmann spricht konsequent von „Gebühr“. Das ist bewusstes Framing: Eine Gebühr erhebt der Staat, ein Preis entsteht am Markt. Der ETS ist ein Markt. Buchinger analysiert: „Er versucht ein negatives Framing aufzubauen, denn eine Gebühr ist für jeden Menschen, der das hört, bäh, Belastung.“
Der CO₂-Preis ist keine künstliche Verteuerung, sondern das Ende einer Subvention: Jahrzehntelang durften Unternehmen kostenlos verschmutzen – auf Kosten der Allgemeinheit.
„Andere Länder machen nichts“
Kullmann: „Unsere Wettbewerber in den USA, in Asien werden um diese CO₂-Gebühr nicht belastet.“
Buchinger: „Diese asiatischen Länder haben längst höhere Auflagen als wir. China betreibt seit 2021 das größte Emissionshandelssystem der Welt, Kalifornien, Kanada, Südkorea und Großbritannien folgen. Sogar Indien baut ein eigenes System auf. Die Behauptung, Europa stehe allein, ist faktisch falsch – und wirtschaftspolitisch gefährlich.“
Versäumte Hausaufgaben
Buchinger: „Wer jetzt den CO₂-Preis die Schuld gibt, dass er nicht transformieren kann – kompletter Quatsch.“ Der Preis sei zu lange zu niedrig gewesen, um zu wirken. Das eigentliche Problem: zwei Jahrzehntelanges Nichtstun.
Evonik, BASF oder Thyssenkrupp haben jahrelang kostenlose Zertifikate erhalten und mitunter sogar Gewinne daraus gezogen. Jetzt, wo Emissionen ihren wahren Preis bekommen, wird das als Belastung verkauft. Tatsächlich fehlt es an Strategie.
Buchinger: „Wenn ich dort nach Strategie frage, haben sie meistens keine. Die sagen mir dann, wir wollen die und die Gewinnmarge – das ist keine Strategie, das ist Wunschdenken.“
Positive Gegenbeispiele
Während Kullmann jammert, zeigt Salzgitter-Chef Gunnar Groebler, wie industrielle Transformation funktioniert. Das Unternehmen investiert Milliarden in klimaneutrale Stahlproduktion. Ab 2026 liefert Salzgitter grünen Stahl an die Autoindustrie – teurer, aber mit klaren Wettbewerbsvorteilen: kurze Lieferketten, verlässliche Produktion, niedriger Fußabdruck.
Auch Covestro-Chef Markus Steilemann stellt sich in der Süddeutschen Zeitung gegen Kullmanns Linie: „Der Emissionshandel hat einen Bombenjob gemacht“, sagt er als Präsident des Verbands der Chemischen Industrie.
Die Emissionen der Branche haben sich halbiert, bei steigender Produktion. Steilemann plädiert für Reformen „mit dem Skalpell, nicht mit dem Totschläger“ – und mahnt zur Vernunft: Klimapolitik ist Standortpolitik.
Buchinger bringt es auf den Punkt: „Die Volkswirtschaften auf der Welt, die prosperieren, die haben längst deutlich mehr transformiert als Europa.“
Der ETS als Standortvorteil
Der ETS ist kein Hindernis, sondern Europas Chance auf technologische Führerschaft. Buchinger: „Wer den ETS bekämpft, der bekämpft den Wirtschaftsstandort Europa.“
Ein starker Emissionshandel schafft planbare Rahmenbedingungen, treibt Innovation und Investitionen an, erhöht die Glaubwürdigkeit Europas bei internationalen Klimaverhandlungen – und wird durch den CO₂-Grenzausgleich (CBAM) ergänzt, der Importe mit denselben Kosten belegt. Damit entsteht erstmals ein fairer globaler Wettbewerb um Effizienz.
Kurs halten – und lernen, strategisch zu denken
Kullmanns Auftritt steht exemplarisch für eine Industrie, die noch immer glaubt, sie könne mit fossilen Rezepten Zukunft gestalten. Doch die Zeit des Kostenexternalisierens ist vorbei. Der ETS ist kein Fehler, sondern eine Korrektur jahrzehntelanger Marktverzerrung.
Cleanthinking.de nennt das, was hier sichtbar wird, fossile Panik – die Angst vor den Konsequenzen eigenen Zögerns. Sie lähmt Konzerne, die längst handeln müssten, und sie untergräbt die Glaubwürdigkeit einer Industrie, die behauptet, sie kämpfe für eine „bessere Welt“.
Europa steht am Scheideweg. Folgt es Managern wie Kullmann, die an fossilen Geschäftsmodellen kleben? Oder Unternehmern wie Groebler und Steilemann, die verstanden haben, dass der CO₂-Preis keine Last ist, sondern ein Standortvorteil?
Die Physik verhandelt nicht. Marktwirtschaft auch nicht. Wer 20 Jahre Vorlauf verschläft, sollte den Kurs nicht kritisieren, sondern endlich beginnen, zu steuern.