Grafik aus dem Global Tipping Points Report 2025
Erster Kipppunkt überschritten: Korallenriffe verloren, globale Kaskaden drohen
Der Global Tipping Points Report 2025 zeigt: Die Klimakrise hat die erste kritische Schwelle überschritten – doch es gibt Wege, das Kippen weiterer Systeme zu verhindern.
Die Erde hat ihren ersten Klimakipppunkt überschritten. Das ist die zentrale Botschaft des neuen Global Tipping Points Report 2025, den ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Exeter veröffentlicht hat. Das Sterben der Warmwasser-Korallenriffe gilt demnach als unumkehrbar – selbst wenn das 1,5-Grad-Ziel noch erreicht würde. Das halten Forscher allerdings für zunehmend unwahrscheinlich bis ausgeschlossen.
Korallenriffe sind nicht nur Ökosysteme von immenser biologischer Vielfalt. Sie sichern auch das Einkommen, die Ernährung und den Küstenschutz für hunderte Millionen Menschen weltweit. Dass ihr Kollaps bereits eingetreten ist, markiert eine neue Phase in der Klimakrise – eine Phase, in der unumkehrbare Veränderungen real geworden sind. Laut Report sind „Warmwasser-Korallenriffe mit über 99 Prozent Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu retten“, selbst bei Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze.
Der Global Tipping Point Report 2025 nennt eine kritische Schwelle von 1,2 Grad globaler Erwärmung für das Überleben der tropischen Korallenriffe. Diese Schwelle ist mit der derzeitigen Erwärmung von etwa 1,4 Grad längst überschritten. Selbst unter optimistischen Szenarien – etwa einer Stabilisierung bei 1,5 Grad – gilt mit über 99 Prozent Wahrscheinlichkeit: Die Korallen sind nicht mehr zu retten. Damit ist ein erstes globales Ökosystem unumkehrbar beschädigt.
Das aber ist nur der Anfang. Denn auch andere Teile des Erdsystems stehen kurz vor dem Kippen – darunter besonders sensible Regionen wie der Amazonas-Regenwald, der Permafrostboden der Arktis oder die polaren Eisschilde. Im Zusammenspiel mit weiteren Belastungsfaktoren wie Entwaldung, Landnutzungswandel oder Verschmutzung wächst das Risiko sogenannter Kaskadeneffekte – also Rückkopplungen, die zu einer Eskalation der Klimakrise führen können.
Der Amazonas-Regenwald beispielsweise gerät durch anhaltende Dürren, Temperaturstress und Entwaldung an seine Grenzen. Die Kippschwelle liegt nach neuen Erkenntnissen bereits bei rund 1,5 Grad. Überschreitet die Erwärmung diesen Wert dauerhaft – was laut aktuellen Projektionen noch in diesem Jahrzehnt geschehen könnte – droht ein großflächiges Absterben. Die Folgen wären dramatisch: Der Wald würde von einer CO2-Senke zur Quelle, der Wasserkreislauf Südamerikas geriete aus dem Gleichgewicht, das regionale Klima würde sich dauerhaft verändern.
Patricia Pinho vom Amazon Environmental Research Institute betont: „Ohne gerechte, lokal verankerte Strategien riskieren wir den Zusammenbruch eines Systems, das für Klima und Biodiversität weltweit essenziell ist.“
Ähnlich besorgniserregend sind die Entwicklungen rund um die Atlantische Umwälzströmung (AMOC). Dieses zentrale Strömungssystem transportiert warmes Wasser aus den Tropen nach Europa und reguliert unter anderem das Klima in Nord- und Westeuropa. Der Report zeigt: Bereits unterhalb von zwei Grad Erwärmung könnte die AMOC instabil werden. Ein Zusammenbruch würde den europäischen Winter massiv verschärfen, den Monsun in Westafrika destabilisieren und die Ernährungssicherheit weltweit bedrohen.
„Wir können nicht ausschließen, dass die AMOC ihren Kipppunkt bereits überschritten hat“, warnt Henk Dijkstra von der Universität Utrecht. Zuletzt hatte sich Prof. Stefan Rahmstorf beim ExtremWetterKongress zur Situation geäußert:
Jedes Zehntelgrad zählt
Das Problem: Viele dieser Kipppunkte sind schwer vorherzusagen – und teils schon in Bewegung. Klimamodelle liefern unterschiedliche Ergebnisse, und das Fehlen langer Datenreihen erschwert die Einschätzung. Doch eines ist klar: Je länger und stärker die Erwärmung über 1,5 Grad hinausgeht, desto größer das Risiko. Jeder Zehntelgrad zählt, jedes zusätzliche Jahr ohne strukturelle Kehrtwende erhöht die Gefahr.
Der Bericht betont zudem, dass sich die Risiken nicht gleichmäßig über den Globus verteilen. Besonders gefährdet sind Regionen mit geringem Anpassungspotenzial – etwa der globale Süden, indigene Gemeinschaften oder tief liegende Inselstaaten. Während Industrienationen vor allem wirtschaftliche und infrastrukturelle Schäden erleiden dürften, drohen anderen Teilen der Welt existentielle Verluste – Lebensgrundlagen, Kulturen, ganze Lebensräume.
Gleichzeitig formuliert der Global Tipping Points Report 2025 auch eine klare Vision: Es gibt eine Gegenbewegung, die Kipppunkte in eine positive Richtung verschieben kann. Wenn Technologien, gesellschaftliche Trends oder politische Maßnahmen einen kritischen Punkt erreichen, kann daraus eine selbstverstärkende Dynamik entstehen – mit beschleunigtem Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft.
„Eine kleine Minderheit kann die Mehrheit kippen, wenn sie über sich selbst verstärkende Rückkopplungen verfügt“, erklärt Hauptautor Tim Lenton.
Ein Beispiel ist der massive Preisverfall bei Photovoltaik und Batteriespeichern. Mit jeder Verdopplung der installierten Kapazität sinken die Kosten signifikant. Dadurch wird Solartechnik für immer mehr Haushalte und Unternehmen erschwinglich – was wiederum die Nachfrage weiter ankurbelt. Solche Dynamiken zeigen sich auch bei Elektroautos, Wärmepumpen oder der Kreislaufwirtschaft.
Diese positiven Kipppunkte entstehen aber nicht zufällig. Sie müssen gezielt gefördert werden – durch politische Maßnahmen wie Subventionen, CO2-Bepreisung, Infrastrukturprogramme oder gesetzliche Standards. Der Report identifiziert unter anderem „Super-Leverage Points“, also strategische Hebel, mit denen sich gleich mehrere Systeme in Richtung Nachhaltigkeit anstoßen lassen – etwa im Zusammenspiel von Stromsektor, Mobilität und Gebäudewärme.
Zentral ist dabei die Rolle der Politik. Der Bericht appelliert an die Entscheidungsträger auf der Weltklimakonferenz COP30 in Belém: Es braucht jetzt Maßnahmen, die über bloße Zielsetzungen hinausgehen. Die aktuellen Klimapläne (NDCs) reichen nicht aus. Ohne eine massive Beschleunigung der Dekarbonisierung, der CO2-Entnahme und der Reduktion kurzlebiger Klimagase wie Methan wird das Zeitfenster zur Vermeidung der gefährlichsten Kipppunkte unweigerlich schließen.
„Wenn wir warten, bis Kipppunkte eindeutig überschritten sind, ist es zu spät“, so Nico Wunderling vom PIK.
Cleanthinking zieht daraus die Lehre: Die Klimakrise ist kein zukünftiges Risiko, sondern ein reales Geschehen – mit ersten irreversiblen Schäden. Aber auch mit der Möglichkeit, über gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Transformation eine neue Dynamik zu erzeugen. Die Frage ist nicht mehr, ob wir handeln müssen, sondern ob wir die Hebel rechtzeitig umlegen.