Myzel-Technologie: Infinite Roots entwickelt Fleisch aus der Pilzwurzel
Hamburger Cleantech-Unternehmen adressiert den Markt für alternative Proteine – als Ergänzung zu Soja, Tofu oder Erbsen.
Das als Mushlabs gestartete Unternehmen Infinite Roots entwickelt als europäischer Pionier alternative Fleischprodukte auf Basis der Pilzwurzel. Die sogenannten Myzelien lassen sich schnell züchten und mit Abfällen füttern. Durch Fermentation – ähnlich wie beim Bierbrauen – entsteht ein proteinreiches Substrat als Basis für vegane Fleischersatzprodukte wie Würstchen, Hackfleisch oder Bratlinge. Namhafte Investoren sehen die Myzel-Technologie der Hamburger als klimafreundliche Lösung im Vergleich zu Soja- und Erbsenproteinen.
Das Potenzial für pflanzliche oder alternative Proteine, das auch Infinite Roots adressiert, ist groß. Berechnungen der Boston Consulting Group zufolge wird der Markt von 40 Milliarden US-Dollar in 2020 auf mindestens 290 Milliarden US-Dollar in 2035 wachsen. Der Konsum alternativer Proteine wiederum liegt laut Prognosen bei:
- 69 Millionen Tonnen: Pflanzlich (etwa Tofu, Soja, Erbsen)
- 22 Millionen Tonnen: Fermentiert
- 6 Millionen Tonnen: Zellkultiviert
Aus Sicht der BCG-Berater sind alternative Proteine allgemein bislang eine weitgehend ungenutzte, aber gewaltige Klimachance.
Ende 2023: Mushlabs wird zu Infinite Roots
„Ein Umdenken in Konsum und Produktion von Lebensmitteln war noch nie so dringend wie heute“, sagt Dr. Mazen Rizk, der CEO und Co-Gründer folgerichtig. 2018 wird das Cleantech-Unternehmen als Mushlabs gegründet, bevor Mushlabs Ende 2023 zu Infinite Roots wird.
Der gebürtige Libanese hat sich während seines Promotionsstudiums in Hamburg mit industrieller Mikrobiologie und erneuerbaren Energien beschäftigt – und auf dieser Basis das Pilze-Unternehmen gegründet mit höchsten Ansprüchen: „Wir streben an, den monumentalen Wandel zu einem nachhaltigen und gesünderen Lebensmittelsystem anzuführen.“
Beginnt eine neue Ära der nachhaltigen Lebensmitteltechnologie?
Das fadenförmige Gewebe der Pilze hat es Rizk dabei angetan. Er sieht im Pilzmyzel nicht nur einen Lebensmittelrohstoff der Zukunft, sondern auch ein „natürliches Superfood“. Dabei bezieht er sich insbesondere auf den hohen Nährstoffgehalt der Myzelien:
- Hoher Proteinanteil mit alle essenziellen Aminosäuren
- Wichtige Ballaststoffe
- Vitamine
- Mineralien
Das Rohprodukt, das sein Unternehmen auf dieser Basis herstellt, ist so schon natürlich gewürzt, denn es ist reich an würzigem Aroma, das als Umami bezeichnet wird. Und genau dieser Geschmack ist dem von Fleisch und Käse sehr ähnlich. „Der Pilzgeschmack wiederum ist vorhanden“, so der Unternehmensgründer, „aber nicht überwältigend. Durch die entwickelte Fermentationstechnik kann er zudem leicht variiert werden.“
Lesen Sie auch: Proteinwende: Bundestag beschließt Millionen für Wandel (cleanthinking.de)
Wie funktioniert die Myzel-Technologie genau?
Als Basisrohstoff dienen dem Unternehmen die Wurzelgeflechte von Speisepilzen wie Pfifferlingen, Champignons, Shiitake oder Portobellos. Die Pilzmyzelien wachsen in sogenannten Fermentern (Bioreaktoren) heran, die mit Nährmedien gefüllt sind. Im nächsten Schritt wird dieses Rohmaterial weiterverarbeitet.
Allerdings produziert Infinite Roots nicht in eigenen Bioreaktoren, sondern bei Partnern. Nicht zufällig zählt die Bitburger Bierbrauerei zu den Investoren und Produktionspartnern des Biotech-Unternehmens. Pilze sind Allesfresser, die ihre Nährstoffe auch aus Reststoffen wie etwa denen der Bierproduktion gewinnen können.
Vorteil Pilzwurzel: Das Myzel braucht drei bis vier Tage bis zur Ernte. Sojabohnen, aus denen Tofu gemacht wird, sind erst nach etwa 140 Tagen erntereif.
Erste kommerzielle Produkte von Infinite Roots
Die ersten kommerziellen Produkte, alternative Fleischbällchen, will Infinite Roots im Jahr 2024 auf den Markt bringen – allerdings nicht hier in Europa, sondern tendenziell eher in den USA oder Asien. Dort sind bereits auch Wettbewerber aktiv wie etwa Meati Foods, das Anfang 2023 eine größere Produktionsstätte eröffnete. Die ersten Produkte von Nature’s Fynd waren im Februar 2021 nach wenigen Stunden ausverkauft. Die Firma wird von Geldgeber Bill Gates unterstützt. Dessen Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ (Empfehlungs-Link zu Amazon) enthält ebenfalls Passagen zum Unternehmen.
Myzel-Fleisch braucht Genehmigung als Novel Food
Die Hamburger Firma von Rizk hat im Jahr 2022 auch mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) Kontakt aufgenommen und einen Antrag zu Genehmigung der eigenen Produkte als „Novel Food“ gestellt. Der Prozess ist aufwändiger und komplexer als in den anderen Weltregionen – aber womöglich wird sich im Jahr 2024 hier dennoch etwas bewegen.
Die Produkte von Infinite Roots bilden eine dritte Kategorie in der Lebensmittelklassifizierung, da Produkte auf Pilzbasis weder pflanzlich noch tierisch sind. In den letzten Jahren ist die Nachfrage nach gesunden Ernährungsalternativen weltweit angestiegen.
Langfristig plant Infinite Roots, mit den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von Pilzmyzel eine Schlüsselrolle bei der Umgestaltung des globalen Lebensmittelsystems zu spielen.
Starke Investoren für Hamburger Myzel-Startup
Im Januar 2024 gab Infinite Roots eine Series-B-Finanzierungsrunde mit einem Volumen von 58 Millionen Euro bekannt. Die Größenordnung der Finanzierungsrunde ist bemerkenswert: sie stellt die bisher größte Investition in Myzel-Technologie in Europa dar und unterstreicht die wachsende Bedeutung für Pilzmyzel im globalen Lebensmittelsystem.
Angeführt wurde die Runde von der Dr. Hans Riegel Holding (HRH), einer der beiden Gesellschafter-Holdings der Haribo-Gruppe, eines international erfolgreichen Süßwarenkonzerns, mit der Unterstützung des EIC Fonds, einer Initiative der Europäischen Kommission. Neu investiert haben auch
- die thailändische Agrar-Gruppe Betagro und
- die Rewe Group, Deutschlands zweitgrößte Lebensmittelkette.
Altinvestoren gehen mit
Auch alle Altinvestoren von Infinite Roots haben erneut investiert. Dazu zählen
- Bitburger Ventures,
- Clay Capital,
- Food Labs,
- Redalpine,
- Simon Capital und
- Happiness Capital.
Auch die Gründer von Infinite Roots halten noch maßgebliche Anteile. Das Hamburger Cleantech-Unternehmen hat seit seiner Gründung 2018 als Mushlabs insgesamt 73 Millionen Dollar Kapital eingesammelt.
Mit der neuen Finanzierung tritt Infinite Roots in eine neue Ära des kommerziellen Wachstums ein und plant, seine Produktionskapazitäten zu erweitern und in weltweite Markteinführungsaktivitäten zu investieren. Stand Anfang 2024 hat das Unternehmen etwas mehr als 65 Mitarbeiter.
Myzel-Technologie anderer Unternehmen
Quorn, ein Konkurrent aus Großbritannien, vertreibt bereits seit 1985 Fleischersatzprodukte auf Basis von Mykoproteinen aus dem Myzel. In Deutschland sind nach einer mehrjährigen Unterbrechung jetzt wieder Bratwürste und Burger von Quorn im Handel erhältlich. Aufgrund des vor 1997 erfolgten Verkaufs als Lebensmittel sind für Quorn-Produkte in der EU keine Novel-Food-Zulassungen erforderlich.
Quorn und der schottische Produzent Enough Food nutzen beide Myzel von Schimmelpilzen. Enough Food hat im August 40 Millionen Euro an Kapital eingesammelt. Im Unterschied dazu verwendet Infinite Roots Myzel von essbaren Pilzen wie Shiitake, Portobello oder Pfifferlingen. In den USA bieten Meati und Nature’s Fynd Fleischersatz, Joghurt und Frischkäse auf der Basis von Pilzmyzel an.
Einschätzung von Martin Jendrischik, Cleanthinking:
Infinite Roots hat aus meiner Sicht gewaltiges Potenzial für die Transformation und als bislang ungenutzte Klimachance alternative Proteine. Es verdient den allergrößten Respekt, wie der Co-Gründer und CEO aus dem Libanon dieses Cleantech- und Biotech-Unternehmen aufbaut. Ob die Myzel-Technologie wirklich hält, was versprochen wird, wird sich 2024 zeigen. Denn dann soll der erste breitere kommerzielle Aufschlag erfolgen.
Die Ressourceneffizienz von Pilz-Proteinen kann der entscheidende Vorteil gegenüber Soja und Co. werden. Gut möglich, dass neben zellulärer Landwirtschaft und Präzisionsfermentation sich auch diese Technologie behaupten wird.
Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.