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Vahrenholt fordert Tschentscher-Rücktritt: Zehn fragwürdige Aussagen zum Zukunftsentscheid
Wie der ehemalige Umweltsenator mit Halbwahrheiten, Übertreibungen und juristischem Halbwissen gegen Klimaschutz mobilisiert – Check des Vahrenholt-Interviews
Fritz Vahrenholt, ehemaliger Hamburger Umweltsenator und selbsternannter „Klimaexperte“, hat sich in einem Interview mit dem laut Wikipedia rechtskonservativen bzw. rechtslibertären Portal Apollo News zum Hamburger Zukunftsentscheid geäußert und dabei sogar den Tschentscher-Rücktritt gefordert. Das Gespräch ist ein Lehrstück dafür, wie mit gezielten Falschaussagen, dramatischen Übertreibungen und juristischem Halbwissen Stimmung gegen Klimaschutz gemacht wird. Cleanthinking hat die zehn zentralsten Aussagen Vahrenholts geprüft– mit einem ernüchternden Ergebnis.
Bereits am 28. September 2025 hatte Cleanthinking sich mit der Methode Vahrenholt befasst. Das neuerliche, 18-minütige Interview, in dem Vahrenholt auch den Tschentscher-Rücktritt fordert, ist hier bei Youtube zu finden.
1. Die Rücktrittsforderung: Juristisches Halbwissen trifft auf politischen Opportunismus
Vahrenholts Aussage: Der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) müsse zurücktreten, weil er sich nicht öffentlich gegen den Zukunftsentscheid positioniert habe. Dies sei ein „schweres Versagen“.
Die Fakten: Vahrenholt ignoriert bewusst oder aus Unwissenheit das Neutralitätsgebot für Amtsträger bei Volksabstimmungen. Nach Art. 50 Abs. 5 der Hamburgischen Verfassung und § 32 des Hamburgischen Volksabstimmungsgesetzes sind staatliche Stellen zur Neutralität verpflichtet. Der Senat darf sich nur sachlich informierend äußern, nicht aber aktiv Wahlkampf für oder gegen einen Volksentscheid führen.
Tschentscher hat sich rechtmäßig verhalten, nicht pflichtwidrig. Die Forderung nach Rücktritt wegen Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben ist absurd. Vahrenholt, selbst ehemaliger Senator, sollte diese Rechtslage kennen – oder er instrumentalisiert bewusst juristische Unkenntnis für politische Polemik.
Übrigens entschied sich Hamburgs Finanzsenator Dressel als Bürger der Stadt Hamburg dazu, mehrere Interviews zu geben – unter anderem dieses hier beim Hamburger Abendblatt. Der Senat hat also indirekt Position bezogen und sich skeptisch geäußert.
Bewertung: Falschaussage durch Verschweigen relevanter Rechtsgrundlagen
2. Die Mieterhöhungs-Panik: 350 Euro vs. Realität
Vahrenholts Aussage: Die Mieten würden um „etwa 350 Euro pro Monat“ für eine durchschnittliche Wohnung steigen.
Die Fakten: Diese Zahl stammt vom Verband Norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW), der als Interessenverband der Vermieter keineswegs neutral ist. Die Berechnung ist mehrfach unseriös:
- Unrealistische Wohnungsgröße: Der VNW rechnet mit 80 m² Durchschnittswohnungen. Die tatsächliche Durchschnittsgröße bei der städtischen Saga liegt unter 70 m².
- Vermischung von Kosten: Die 320 Euro (nicht 350!) enthalten laut VNW 3 Euro/m² für die generelle Klimaneutralität bis 2045 PLUS 1 Euro/m² für das Vorziehen auf 2040. Der Großteil der Kosten würde also auch ohne den Volksentscheid anfallen.
- Ignorieren gesetzlicher Beschränkungen: Nach aktueller Rechtslage sind solche Mieterhöhungen gar nicht zulässig. Bei Ausgangsmieten unter 7 Euro/m² darf die Miete nach Modernisierung maximal um 2 Euro/m² steigen.
- Keine Gegenrechnung: Vahrenholts Horrorszenario verschweigt systematisch die Einsparungen bei den Heizkosten. Expert:innen rechnen mit bis zu 30 Prozent niedrigeren Heizkosten nach energetischer Sanierung.
Die Machbarkeitsstudie der Stadtentwicklungsbehörde kommt auf durchschnittlich 1,57 Euro/m² statt 3 Euro/m² – also monatlich maximal 170 Euro bei einer 70-m²-Wohnung, wovon ein Großteil durch Heizkostenersparnis kompensiert wird.
Bewertung: Grobe Übertreibung und Verschweigen entlastender Fakten = Desinformation
3. Die Aurubis-Behauptung: China und die 50-Prozent-Lüge
Vahrenholts Aussage: „Die Chinesen produzieren mittlerweile über 50 Prozent des Weltkupfers.“
Die Fakten: Dies ist deutlich übertrieben. Nach Daten des International Copper Study Group (ICSG) und der U.S. Geological Survey produziert China rund 40-42 Prozent des raffinierten Kupfers weltweit (Stand 2024). Bei der Primärproduktion aus Minen liegt Chinas Anteil sogar nur bei etwa 8-10 Prozent.
China ist der größte Verarbeiter und Importeur von Kupfer, nicht der größte Produzent von Primärkupfer. Die größten Kupferminen-Produzenten sind Chile, Peru und Kongo.
Vahrenholt vermischt hier bewusst oder fahrlässig Raffinerie-Kapazitäten mit Primärproduktion, um sein China-Narrativ zu stützen.
Bewertung: Faktisch falsch, Übertreibung zur Dramasteigerung
4. Das CO₂-Verlagerungsargument: Ökonomischer Grundkurs ignoriert
Vahrenholts Aussage: „Alles, was Hamburg an Gas und Öl und Kohle einspart, wird natürlich dann woanders verbrannt.“
Die Fakten: Diese simplifizierte Weltsicht ignoriert grundlegende ökonomische Mechanismen:
- Nachfragereduktion senkt Preise: Wenn Hamburg (und andere Städte) weniger fossile Energie nachfragen, sinkt der Preis – aber auch das Angebot passt sich mittelfristig an. Investitionen in neue Öl- und Gasfelder werden unrentabler.
- Technologiediffusion: Hamburgs Transformation schafft Skaleneffekte für klimaneutrale Technologien, die dann global günstiger werden.
- Signalwirkung: Wenn reiche Industrieländer nicht vorangehen, warum sollten Entwicklungs- und Schwellenländer folgen?
- Carbon Leakage ist messbar: Die EU hat mit dem CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) bereits Instrumente geschaffen, um Verlagerungseffekte zu begrenzen.
Bewertung: Unzulässige Simplifizierung komplexer ökonomischer Zusammenhänge
5. Die Industrie-Apokalypse: Kein Aluminium, kein Kupfer, kein Stahl?
Vahrenholts Aussage: Klimaneutralität 2040 bedeute „keine Produktion von Aluminium, kein Kupfer, kein Stahl, Stilllegung der Raffinerie“.
Die Fakten: Diese Behauptung ist eine pure Unterstellung ohne Beleg. Der Gesetzestext des Zukunftsentscheids fordert Klimaneutralität, nicht die Stilllegung der Industrie. Klimaneutralität kann erreicht werden durch:
- Einsatz von grünem Wasserstoff
- Elektrifizierung mit Ökostrom
- Carbon Capture and Storage (CCS)
- Kompensation unvermeidbarer Restemissionen
Aurubis selbst hat ehrgeizige Dekarbonisierungspläne und investiert in klimaneutrale Produktionsverfahren. Kein einziges Unternehmen hat angekündigt, wegen des Volksentscheids Hamburg zu verlassen.
Bewertung: Unbelegte Panikpropaganda
6. Das Verbrenner-Argument: Was Hamburg nicht entscheidet
Vahrenholts Aussage: Der Volksentscheid bedeute ein „Verbot der Fahrten mit Benzin und Dieselfahrzeugen“.
Die Fakten: Der Volksentscheid enthält keine Aussage zum Individualverkehr. Das EU-weite Verbrenner-Aus ab 2035 ist unabhängig von Hamburger Entscheidungen bereits beschlossen. Auch zwischen 2035 und 2040 würde niemand bestehende Verbrennerfahrzeuge verbieten – nur Neuzulassungen sind betroffen.
Zudem: E-Mobilität ist 2040 längst Standard, unabhängig von Hamburger Beschlüssen.
Bewertung: Irreführende Verknüpfung nicht zusammenhängender Sachverhalte
7. Die Container-Schiff-Polemik: Hamburgische Kompetenzen überschätzt
Vahrenholts Aussage: „Keine dieselbetriebenen Containerschiffe mehr.“
Die Fakten: Der Schiffsverkehr unterliegt internationalen Regelungen (IMO), nicht hamburgischem Landesrecht. Hamburg kann Anreize für saubere Schifffahrt setzen (etwa über Hafengebühren), aber keine Verbote für international verkehrende Schiffe aussprechen.
Die Behauptung zeigt entweder juristische Inkompetenz oder bewusste Irreführung.
Bewertung: Kompetenzüberschreitung suggeriert, faktisch nicht zutreffend
8. Die SPD-Analyse: Klassenkampf-Rhetorik statt Fakten
Vahrenholts Aussage: Die SPD vertrete nicht mehr die Industriearbeiterschaft, sondern „junge Studenten, diejenigen, die nicht morgens um acht Uhr zur Arbeit gehen müssen, sondern in der Regel diejenigen, die von der Arbeit anderer leben“.
Die Fakten: Diese Aussage ist klassistische Polemik, keine Analyse. Für den Volksentscheid haben sich unter anderem ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) und der Mieterverein Hamburg ausgesprochen – beides Organisationen, die klassische Arbeitnehmer:inneninteressen vertreten.
Die Abstimmung verlief nicht entlang der Linie „Arbeiter gegen Studenten“, sondern entlang unterschiedlicher Zukunftsvorstellungen quer durch alle Schichten.
Bewertung: Klassistische Polemik ohne empirische Basis
9. Die 200-Stellen-Empörung: Verwaltung für ambitionierte Ziele
Vahrenholts Aussage: „200 neue Stellen sollen geschaffen werden, damit das auch kontrolliert wird. Muss man sich mal vorstellen!“
Die Fakten: Für die Transformation einer Millionenstadt zur Klimaneutralität in 15 Jahren sind 200 zusätzliche Verwaltungsstellen (Planer:innen, Energieberater:innen, Koordinator:innen) nicht nur angemessen, sondern notwendig. Zum Vergleich: Die Hamburgische Verwaltung beschäftigt über 80.000 Mitarbeitende. 200 zusätzliche Stellen sind 0,25 Prozent.
Bewertung: Pseudo-Empörung über vernachlässigbare Größenordnung
10. Der Welt-Rettungs-Strohmann: „Hamburg ist nur 0,001 Prozent“
Vahrenholts Aussage: „Wir machen zwar nur 0,001 Prozent der Welt aus […] Das ist völlig witzlos und völlig egal, was Hamburg, ja egal, was Deutschland macht.“
Die Fakten: Dies ist der klassische Strohmann der Klimaschutz-Gegner. Mit derselben Logik könnte jede Stadt, jedes Land, jedes Unternehmen argumentieren: „Wir sind so klein, wir müssen nichts tun.“
Die Realität: Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und hat historisch erheblich zum CO₂-Ausstoß beigetragen. Technologieführerschaft bei Klimaschutz schafft Export-Chancen und Arbeitsplätze. Hamburg als wichtiger Industriestandort kann Leuchtturm-Charakter für andere Metropolen haben.
Bewertung: Logischer Fehlschluss zur Rechtfertigung von Untätigkeit
Die Analyse der zehn Kernaussagen zeigt ein Muster:
- Dramatisierung: Normale Transformationsprozesse werden zu Apokalypse-Szenarien aufgeblasen
- Selektive Faktennutzung: Nur Zahlen nennen, die das eigene Narrativ stützen
- Weglassen entlastender Informationen: Heizkostenersparnis, gesetzliche Mietobergrenzen, Förderprogramme
- Falsche Kausalitäten: Verknüpfung nicht zusammenhängender Sachverhalte
- Emotionalisierung: „Klappe halten“, „Wahnsinn“, „Angriff auf Wohlstand“
- Klassenkampf-Rhetorik: Konstruktion eines Gegensatzes „ehrliche Arbeiter vs. wohlstandsverwahrloste Studenten“
- Autoritätsargument: Position als Ex-Senator nutzen, obwohl fachlich längst überholt
Vahrenholts Agenda: Vom Umweltschützer zum Fossil-Lobbyisten
Fritz Vahrenholt war in den 1990ern tatsächlich Umweltsenator in Hamburg. Doch seine Transformation zum Klimawandel-Verharmloser ist gut dokumentiert:
- Mitglied im Beirat der EIKE (Europäisches Institut für Klima und Energie), einer Organisation, die den menschengemachten Klimawandel leugnet
- Aufsichtsrat bei Aurubis, einem energieintensiven Industrieunternehmen
- Autor mehrerer Bücher, die den wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel in Frage stellen
- Regelmäßiger Interviewpartner rechtspopulistischer Medien wie Apollo News
Seine Position ist nicht die eines unabhängigen Experten, sondern die eines Interessenvertreters fossiler Industrien.
Diese Methode funktioniert, weil viele Menschen Vahrenholts frühere Position kennen und ihm vertrauen – ohne zu wissen, dass er seine Glaubwürdigkeit längst verspielt hat.
Desinformation erkennen und benennen
Der Hamburger Zukunftsentscheid kann man ablehnen – aus legitimen Gründen wie Tempo, Kosten-Nutzen-Abwägung oder Priorisierung. Aber diese Ablehnung sollte auf Fakten basieren, nicht auf den zehn fragwürdigen Aussagen eines Fossil-Lobbyisten.
Fritz Vahrenholts Interview ist ein Lehrstück dafür, wie systematisch gegen Klimaschutz mobilisiert wird:
- Mit Halbwahrheiten und Übertreibungen
- Mit Verschweigen entlastender Fakten
- Mit Emotionalisierung statt Argumentation
- Mit dem Missbrauch früherer Autorität
Die Methode Vahrenholt funktioniert nur, wenn Medien und Bürger*innen nicht hinterfragen. Tschentscher-Rücktritt ist natürlich eine absurde Forderung und wird nicht passieren. Cleanthinking hat hinterfragt – und die fragwürdigen Aussagen benannt.
Hamburg hat entschieden. Jetzt gilt es, den Beschluss sachlich und sozialverträglich umzusetzen. Nicht durch Panik und Desinformation, sondern durch Fakten, Innovation und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Quellen:
- Hamburgisches Volksabstimmungsgesetz (HmbVAbstG)
- Verband Norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW): Kostenberechnungen zum Volksentscheid
- Machbarkeitsstudie der Hamburger Stadtentwicklungsbehörde
- International Copper Study Group (ICSG): Weltproduktion Kupfer 2024
- Hinz&Kunzt: „Wie stark steigen die Mieten durch den Zukunftsentscheid?“