Beispiel-Screenshot - Octopus Energy / Kraken
Kraken bekommt 1 Milliarde Dollar – und wird unabhängig von Octopus Energy
Warum das Software-Betriebssystem von Kraken für Versorger, dynamische Tarife und Flex-Steuerung auch deutsche Stadtwerke betrifft
Wenn ein Energieversorger heute „dynamische Tarife“ verspricht, scheitert es selten an der Idee – sondern an der IT darunter. Genau deshalb ist die Meldung des Tages auch für deutsche Stadtwerke relevant: Ohne Plattformen wie Kraken Technologies bleiben Smart-Meter-Massenbetrieb, flexible Tarife und die Steuerung von Wärmepumpen, Wallboxen und Speichern PowerPoint-Folien. Das Spin-Out, bislang der Software-Arm von Octopus Energy, bekommt nun frisches Kapital – und löst sich organisatorisch vom Mutterkonzern.
Octopus Energy hat einen Minderheitsanteil an Kraken verkauft, insgesamt wurden dabei rund eine Milliarde US-Dollar an Anteilen platziert. Die Transaktion bewertet das Cleantech-Unternehmen mit etwa 8,65 Milliarden US-Dollar. Neue Investoren sind unter anderem D1 Capital Partners, Fidelity International und der Ontario Teachers‘ Pension Plan. Octopus behält nach dem Deal noch rund 13,7 Prozent an Kraken – die Abspaltung gilt als Vorbereitung für weiteres Wachstum und perspektivisch für einen Börsengang.
Kraken Technologies wird als eigenständige Plattformfirma positioniert, die Versorger-IT von Abrechnung bis Flex-Steuerung modernisieren soll.
Warum diese Milliardenmeldung Deutschland betrifft
Die deutsche Energiewende ist technisch längst mehr als Erzeugung – sie ist ein Betriebsproblem. Millionen flexible Geräte müssen in ein System integriert werden, das auf Viertelstundenpreise, Engpässe im Netz und volatile Einspeisung reagiert. Dafür braucht es neben Netz- und Marktdesign vor allem Software, die Datenströme und Prozesse in kurzer Taktung beherrscht – vom Tarif über die Abrechnung bis zur Gerätesteuerung.
Kraken verspricht genau das: ein Cloud-basiertes „Betriebssystem“ für Versorger, das Kundendaten, Produktlogik und zunehmend Flex-Funktionen in einer Plattform zusammenführt. In Deutschland ist das Timing brisant: Smart-Meter-Rollout, steuerbare Verbraucher, dynamische Tarife und Flexibilitätsmärkte treffen auf eine IT-Landschaft, die häufig aus Legacy-Systemen und Insellösungen besteht.
Wer hier schneller werden will, hat im Grunde zwei Optionen: jahrelange Eigenentwicklung in heterogenen Systemen – oder der Sprung auf eine Plattform, die bereits im Massengeschäft läuft. Dass ein Octopus-Spin-out heute Milliarden einsammelt, ist ein klares Signal: Utility-Software wird zur kritischen Infrastruktur der Energiewende.
Was Kraken eigentlich macht – und warum das nicht nur „Billing“ ist
Kraken Technologies wurde als Plattform innerhalb von Octopus Energy Group aufgebaut und ist heute auch an Wettbewerber lizenziert. Inzwischen betreut die Plattform mehr als 70 Millionen Kundenkonten weltweit und arbeitet unter anderem für EDF und E.ON. Als Zielmarke wird von den Cleantech-Unternehmen genannt, bis 2027 rund 100 Millionen Accounts zu unterstützen. Das ist ein Maßstab, der eher nach globalem Plattformanbieter klingt als nach klassischer Versorger-IT – und erklärt die Bewertung.
Operativ ist Kraken ein Bündel aus Kernsystemen: Kundenverwaltung, Tarife, Abrechnung, Service-Workflows, Smart-Meter-Daten und zunehmend Module für Flex und dezentrale Assets. Die Plattform ist als Cloud-Stack mit API-Logik gebaut, sodass Versorger bestehende Systeme anbinden oder schrittweise ablösen können, statt alles im „Big Bang“ umzuschalten. Seit 2024 führt Amir Orad als CEO das eigenständiger aufgestellte Geschäft – die Personalie unterstreicht, dass das Unternehmen nicht mehr „IT der Mutter“ sein will, sondern ein globales Softwareunternehmen.
Was das im Alltag eines Versorgers bedeutet, ist weniger „KI-Magie“ als Betriebsdisziplin. Ein durchgängiges Daten- und Prozessmodell erlaubt es, Produkte schneller zu verändern, Kundenanliegen zu automatisieren und Messdaten produktiv zu nutzen, ohne dass sich Fehlerketten durch die Abrechnung ziehen. Genau diese Betriebsfähigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Flex überhaupt skaliert – also Lasten und Erzeugung so zu verschieben, dass Netze entlastet und Erneuerbare besser genutzt werden.
EDF zeigt, wie schnell Transformation gehen kann
Wie schnell so ein Umstieg funktionieren kann, zeigt EDF im britischen Markt: Der Konzern hat 5,8 Millionen Kundenkonten in 15 Monaten migriert. Für eine Migration dieser Größenordnung gilt in der Branche normalerweise: hohe Risiken, jahrelange Programme, im Zweifel sinkende Servicequalität während der Umstellung. Dass EDF den Wechsel öffentlich als Meilenstein kommuniziert, macht den Unterschied sichtbar: Plattformen werden für große Versorger zur Abkürzung in die digitale Gegenwart.
Interessant ist zudem, dass Kraken über „Retail und Rechnung“ hinausdenkt. EDF und Kraken haben im November 2025 eine Flexibilitäts-Partnerschaft angekündigt, die Haushalten helfen soll, Verbrauch in günstigere und „grünere“ Zeiten zu verschieben. Das ist der Punkt, an dem Utility-Software vom Abrechnungssystem zum Steuerungs- und Optimierungssystem wird – und damit direkt ins Herz der Energiewende rückt.
Octopus Energy: vom Stromanbieter zum Plattformkonzern
Octopus Energy ist 2015 gegründet worden und hat sich in Großbritannien vom Herausforderer zum Massenanbieter entwickelt. Kraken gilt als die technologische Basis, mit der Octopus Smart-Meter-Daten, Tarifinnovation und automatisierte Prozesse schneller als viele Wettbewerber umsetzen konnte – ein Vorteil, der sich im hochregulierten UK-Markt auszahlt.
Dass die Briten inzwischen auch von E.ON, EDF, Origin Energy oder Tokyo Gas genutzt wird, erklärt, warum die Ausgründung jetzt strategisch Sinn ergibt: Kraken kann neutral an Wettbewerber verkaufen, ohne als „Waffe“ eines Konkurrenten wahrgenommen zu werden.
Das Kapital der Runde dient dabei nicht nur der Expansion, sondern auch einer Rollenklärung. Octopus kann sich stärker auf Endkundengeschäft und Produktinnovation konzentrieren, während Kraken als Softwaregeschäft in eigenem Rhythmus skaliert und sich für einen IPO positioniert. Der Vergleich mit Amazon AWS drängt sich auf, ist aber nur dann hilfreich, wenn man die Regeln der Energiewirtschaft mitdenkt: Datenschutz, regulatorische Vorgaben, Abrechnungskorrektheit, Ausfallsicherheit und Cyber-Resilienz sind hier Teil des Produkts, nicht Add-on.
Warum Investoren hier so viel Fantasie sehen, erklärt auch die Klimafinanz-Logik, die Al Gore zuletzt bei der SF Climate Week betont hat: Risiko wird bepreist – und Infrastruktur braucht digitale Steuerbarkeit:
Auch die Investorenstory passt zu dieser Logik. 2021 stieg Generation Investment Management, der von Al Gore mitgegründete Klimainvestor, bei Octopus ein: bis zu 600 Millionen US-Dollar für rund 13 Prozent der Anteile, bei einer Bewertung von bis zu 4,6 Milliarden US-Dollar. Für Octopus war das nicht nur Kapital, sondern ein Marktsignal: Energieversorger werden als Tech-Plattformen investierbar – vorausgesetzt, sie liefern Skalierung und echten Nutzen für ein emissionsarmes System.
Service: Wer Octopus testen will, kann den Plattform-Anspruch direkt im Alltag abklopfen – etwa über Tariflogik, Support-Prozesse und die Integration eigener Geräte: Hier alle Infos dazu.
Chancen und Risiken: Warum Utility-Tech zum Machtfaktor wird
Der Plattformansatz hat offensichtliche Vorteile: schnellere Produktzyklen, weniger Prozesskosten und eine technische Basis, auf der Flexibilitätsangebote überhaupt erst skaliert werden können. Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von wenigen Technologie-Stacks, während klassische Anbieter wie Oracle oder SAP ihre Utilities-Suiten modernisieren und spezialisierte Flex-Plattformen einzelne Funktionen abdecken.
Für Versorger wird damit eine strategische Frage zentral: Welche Teile der Wertschöpfung will man auf eine externe Plattform verlagern – und wo bleiben eigene Kompetenzen bewusst im Haus?
Dazu kommen Risiken, die in der Energiewirtschaft härter wiegen als in vielen anderen Branchen. Vendor-Lock-in kann zur Falle werden, wenn Preisgestaltung, Roadmap oder Datenhoheit kippen. Cybersecurity ist bei kritischer Infrastruktur kein Appendix, sondern Voraussetzung. Dass Kraken sich aus Octopus löst, kann Vertrauen schaffen, weil es den Interessenkonflikt reduziert – zugleich zeigt die Debatte im UK-Markt, wie stark Regulierung und Kapitalanforderungen den Rahmen für Versorger mitbestimmen.
Fünf Fragen, die deutsche Versorger jetzt klären sollten
Für deutsche Versorger und Stadtwerke liegt die eigentliche Lernkurve in der Konsequenz, nicht im Hype. Nicht jede Plattform passt zu jeder Ausgangslage, aber der Status quo ist keine Option, wenn dynamische Tarife und Flex wirklich in die Breite sollen. Wer jetzt über Migrationen nachdenkt, sollte vor allem fünf Dinge klären: Datenhoheit und Exit-Strategie, Integrationsfähigkeit in die vorhandene Prozesswelt, Security-Audit, Fähigkeit zur schnellen Produktiteration – und die Frage, wie Flex-Steuerung mit Netzbetreibern, Messstellenbetrieb und Abrechnung zusammenspielt.
Die Kraken-Milliarde als Signal
Die Milliarde für Kraken ist mehr als eine Finanz-Headline. Sie markiert, dass der Flaschenhals der Energiewende immer häufiger in Software, Daten und operativen Prozessen liegt – und dass Investoren Utility-Tech inzwischen wie ein global skalierbares Plattformgeschäft bewerten.
Für Deutschland ist das eine Einladung zur Nüchternheit: Wer Flex, dynamische Tarife und Sektorkopplung wirklich will, braucht nicht nur politische Ziele, sondern IT, die im Tagesgeschäft standhält. Die Energiewende scheitert nicht an Windrädern – sondern an der Frage, ob die Systeme dahinter mithalten können.