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Energiewende auf der Überholspur
Wie die Welt das historische Verdreifachungsziel noch erreichen kann
Die gute Nachricht zuerst: Die globale Energiewende nimmt Fahrt auf und ist auf der Überholspur. 582 Gigawatt neue erneuerbare Kapazitäten, dramatisch sinkende Kosten und Solarenergie im Rekordtempo – 2024 war ein Jahr der Superlative. Doch der neue IRENA-Report zeigt: Um das historische Ziel der COP28 zu erreichen, muss die grüne Disruption noch schneller in mehr Länder expandieren.
Die Zahlen lesen sich beeindruckend: Im vergangenen Jahr wurden weltweit 582 Gigawatt (GW) neue Kapazitäten für erneuerbare Energien installiert – ein neuer Rekord zum dritten Mal in Folge. Besonders spektakulär: 91 Prozent aller neuen Kraftwerkskapazitäten liefern heute günstigeren Strom als die billigste fossile Alternative. Was vor wenigen Jahren noch Zukunftsmusik war, ist längst Realität geworden.
Die Disruption ist da – aber noch zu langsam
Doch die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) macht in ihrem aktuellen Report „Delivering on the UAE Consensus“ deutlich: Die Geschwindigkeit der Disruption reicht noch nicht aus. Um das auf der COP28 in Dubai beschlossene Ziel zu erreichen – die Verdreifachung erneuerbarer Kapazitäten auf 11,2 Terawatt (TW) bis 2030 – muss das globale Wachstum von derzeit 15,1 auf 16,6 Prozent jährlich steigen.
Das klingt nach einem kleinen Unterschied, bedeutet aber in der Praxis: Statt 582 GW müssen ab sofort jedes Jahr 1.122 GW installiert werden – fast doppelt so viel wie 2024. Die Lücke zum Ziel beträgt noch 900 GW – mehr als die gesamte installierte Kapazität Nord-, Mittel- und Südamerikas zusammen.
Francesco La Camera, Generaldirektor von IRENA, bringt es auf den Punkt: „Die Ergebnisse geben dringend benötigte Hoffnung, dass das Verdreifachungsziel noch erreicht werden kann. Aber es ist jetzt an der Zeit, das Tempo zu erhöhen.“

Solar-PV: Der strahlende Champion der Energiewende
Die eigentliche Erfolgsgeschichte schreibt die Photovoltaik. Mit 452 GW neu installierter Leistung – 27 Prozent mehr als 2023 – dominiert Solar-PV die globale Energiewende. Die Technologie ist so ausgereift und kostengünstig geworden, dass sie allein schon auf Kurs liegt, ihr 2030-Ziel von 6,15 TW zu erreichen oder sogar zu übertreffen.
Der Grund für diesen Triumph? Eine perfekte Kombination aus rasanten Kostensenkungen, kurzen Projektentwicklungszeiten und ausgereiften Lieferketten. Durchschnittlich 139 Megawatt (MW) pro Projekt wurden 2024 realisiert – in einer Geschwindigkeit, die andere Technologien neidvoll macht.
Die Kosten sind geradezu spektakulär gefallen: Neue Solar-PV-Anlagen liefern Strom für durchschnittlich 4,3 US-Cent pro Kilowattstunde. Onshore-Windkraft liegt bei 3,4 Cent – beide unterbieten fossile Energieträger mittlerweile spielend.
Wind, Wasser, Bioenergie: Die Nachzügler brauchen einen Boost
Doch bei allen anderen erneuerbaren Technologien sieht die Lage kritischer aus. Die Windenergie, eigentlich der zweite Pfeiler der Energiewende, muss ihre jährlichen Kapazitätserweiterungen nahezu verdreifachen:
- Onshore-Wind: Von 105,7 GW (2024) auf rund 262 GW pro Jahr
- Offshore-Wind: Von nur 8,6 GW auf 55 GW – eine Versechsfachung!
Bei Wasserkraft sieht es nicht besser aus: Statt der benötigten 31 GW pro Jahr wurden 2024 lediglich 9,3 GW zugebaut. Bioenergie muss sich verfünffachen, Geothermie und konzentrierte Solarenergie (CSP) benötigen einen beispiellosen Schub um den Faktor 25.
Was fehlt? Vor allem drei Dinge: Beschleunigte Genehmigungsverfahren, massive Investitionen und qualifizierte Fachkräfte. Hinzu kommt bei Offshore-Wind, dass europäische Hersteller wie Vestas, Siemens Gamesa und Nordex jahrelang mit Inflation, steigenden Rohstoffkosten und Lieferkettenproblemen zu kämpfen hatten.

Die geografische Schieflage: Asiens Dominanz und Afrikas Potenzial
Ein kritischer Blick auf die Weltkarte offenbart die nächste Herausforderung: Die Energiewende findet vor allem in drei Regionen statt. Asien, Europa und Nordamerika vereinen 85,4 Prozent aller installierten erneuerbaren Kapazitäten. Allein China kommt auf 2.374 GW – mehr als die Hälfte der weltweiten Kapazität.
Der Rest der Welt? Gerade mal 14,6 Prozent. Afrika, ein Kontinent mit gigantischem Solar- und Windpotenzial, verfügt über lediglich 70 GW installierte Leistung – 1,6 Prozent des globalen Totals. Dabei müsste die Kapazität bis 2030 auf 300 GW vervierfacht werden, um das 1,5-Grad-Ziel zu unterstützen.
Die Botschaft ist klar: Die grüne Disruption muss globaler werden. Lateinamerika, der Nahe Osten, Südostasien und vor allem Afrika brauchen einen massiven Kapazitätsausbau – und zwar schnell.
Batteriespeicher: Die heimliche Revolution
Eine der hoffnungsvollsten Entwicklungen des Jahres 2024 vollzog sich fast unbemerkt: Der globale Batteriespeicher-Boom. Mit 74 GW (etwa 180 GWh) wurde nahezu doppelt so viel Kapazität installiert wie im Vorjahr. China, die USA und Europa führen die Entwicklung an.
Das Beste daran: Die Kosten für Batteriespeicher sind seit 2010 um atemberaubende 93 Prozent gefallen – von 2.571 auf nur noch 192 US-Dollar pro Kilowattstunde. Diese Kostenrevolution macht Speichersysteme zunehmend wirtschaftlich und ebnet den Weg für eine vollständig erneuerbare Stromversorgung.
Doch auch hier gilt: Das Tempo muss steigen. Von derzeit 164 GW müssen Batteriespeicher auf 360 bis 900 GW bis 2030 wachsen – eine Verdoppelung bis Verfünffachung. Dazu kommen 170 GW zusätzliche Pumpspeicher-Kapazität.
Elektromobilität: Der unterschätzte Gamechanger
Während die öffentliche Debatte oft auf Stromnetze und Windräder fokussiert ist, vollzieht sich im Verkehrssektor eine stille Revolution. Elektrofahrzeuge (EVs) erreichten 2024 einen Rekordanteil von 21 Prozent aller weltweiten Pkw-Neuverkäufe – angeführt von China, wo bereits mehr als jeder vierte neue Pkw elektrisch fährt.
Die nackten Zahlen: Von 57 Millionen E-Autos und Plug-in-Hybriden weltweit muss der Bestand auf 360 Millionen bis 2030 steigen. Das ist mehr als eine Versechsfachung in nur sechs Jahren – ein ambitioniertes, aber bei anhaltender Dynamik erreichbares Ziel.
Besonders spannend: Wärmepumpen und E-Autos sind nicht nur klimafreundlich, sondern auch drei bis vier Mal effizienter als ihre fossilen Pendants. Ein Elektromotor wandelt 60 bis 80 Prozent der Energie in Bewegung um, ein Verbrenner schafft gerade mal 20 bis 30 Prozent. Diese intrinsische Effizienz ist der wahre Hebel der Elektrifizierung.
Energieeffizienz: Der vergessene Zwilling
Hier zeigt der Report die größte Schwachstelle der globalen Klimastrategie auf: Während die erneuerbaren Energien boomen, dümpelt die Energieeffizienz vor sich hin. Die Verbesserung der Energieintensität liegt bei mageren einem Prozent pro Jahr – erforderlich wären vier Prozent, mittlerweile sogar fünf Prozent jährlich bis 2030.
Das ist dramatisch, denn Energieeffizienz ist die günstigste Form der Dekarbonisierung. Gebäude, die nicht renoviert werden, Industrieprozesse, die veraltet bleiben, und ineffiziente Heizsysteme verschwenden Jahr für Jahr gigantische Energiemengen.
Die globale Gebäuderenovierungsrate liegt bei einem Prozent des Bestands pro Jahr – viel zu niedrig. Europa erlebte 2024 sogar einen Rückgang bei Wärmepumpen-Verkäufen um 27 Prozent, während Asien um 16 Prozent zulegte.
Investitionen: Der Elefant im Raum
624 Milliarden US-Dollar flossen 2024 in erneuerbare Energien – ein Plus von sieben Prozent. Das klingt viel, ist aber weit entfernt von dem, was nötig wäre: 1,44 Billionen Dollar pro Jahr bis 2030. Die Investitionen müssen sich mehr als verdoppeln.
Hier kommt die größte Hürde: Während Industrieländer und China relativ gut mit Kapital versorgt sind, bleiben Entwicklungs- und Schwellenländer massiv unterfinanziert. Ohne China investierten diese Länder 2024 nur ein Fünftel dessen, was bis 2030 jährlich nötig wäre.
Der Grund: Finanzierungskosten sind in Entwicklungsländern zwei- bis fünfmal höher als in OECD-Staaten. Schlechtere Bonitätsbewertungen führen zu teureren Krediten – ein Teufelskreis, der nur durch internationale Unterstützung, Risiko-Absicherungsinstrumente und konzessionäre Finanzierung durchbrochen werden kann.
Die Rechnung für faire Energiewende-Finanzierung:
- Least Developed Countries (LDCs): ≥116 Mrd. USD erforderlich
- Small Island Developing States (SIDS): ≥6,1 Mrd. USD
- Sub-Sahara Afrika: ≥113 Mrd. USD
Lieferketten im Umbruch: Chinas Dominanz und neue Player
Die globale Energiewende hängt massiv von funktionierenden Lieferketten ab – und hier zeigt sich ein komplexes Bild. China produziert 82 Prozent aller Solarmodule weltweit, dominiert bei Batterien noch stärker und ist auch bei Wind führend. Diese Konzentration birgt Risiken – und Chancen.
2024 war ein Jahr der Verwerfungen: Massive Überkapazitäten im Solarsektor führten zu einem Einbruch der Modulpreise und einem Rückgang der Investitionen in neue Fabriken um 72 Prozent. Gleichzeitig verdoppelten sich Investitionen in Batteriefabriken auf 74 Milliarden Dollar – getrieben durch die E-Mobilitätswende.
Neue Player betreten die Bühne: Indien baut seine Solarproduktion rasant aus – von unter 5 GW Kapazität 2018 auf 68 GW 2024. Doch US-Zölle von 25 Prozent auf indische Waren könnten diesen Aufschwung abwürgen. Ähnlich ergeht es Südostasien, wo Investitionen in Solarfabriken 2024 um 62 Prozent einbrachen – Folge steigender US-Importbarrieren.
Die geopolitische Dimension: Handelskonflikte und Zölle bremsen die Energiewende aus, statt sie zu beschleunigen. Was die Welt braucht, sind faire Handelsregeln, technologischer Wissenstransfer und lokale Wertschöpfung – statt protektionistischer Abschottung.
Stromnetze: Die unterschätzte Achillesferse
Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte oft zu kurz kommt, ist in Wahrheit die kritischste Herausforderung der Energiewende: der Ausbau und die Modernisierung der Stromnetze. 791 bis 912 Milliarden Dollar müssen jährlich investiert werden – 2024 waren es gerade mal 433 Milliarden.
Die Probleme: Wartezeiten für Transformatoren erreichen in den USA mittlerweile 2,5 bis 2,8 Jahre. Kabelpreise haben sich seit 2019 fast verdoppelt. Genehmigungsverfahren für neue Übertragungsleitungen dauern oft länger als der eigentliche Bau.
Ohne massiv beschleunigte Netzausbauten werden Windparks und Solaranlagen nicht angeschlossen, bleibt Ökostrom ungenutzt und stockt die gesamte Energiewende. Das Netz ist der Flaschenhals – und hier muss Politik endlich Tempo machen.
Hoffnungsvolle Signale: Die Welt bewegt sich
Trotz aller Herausforderungen gibt es starke Signale für Optimismus. Bis 1. Oktober 2025 haben 60 Staaten ihre aktualisierten Klimaziele (NDC 3.0) eingereicht – und viele setzen ehrgeizigere Ziele als zuvor. Die kollektiven Ziele steigen von 5,4 auf 5,8 TW.
Der große Paukenschlag kam im September 2025: Beim UN-Klimagipfel kündigte China – der weltgrößte Emittent – dramatisch verschärfte Ziele an: tiefere Emissionssenkungen, ein höherer Anteil nicht-fossiler Energien und eine massive Expansion von Wind und Solar bis 2035. Zusammen mit Ankündigungen anderer großer Volkswirtschaften könnten die globalen Ambitionen auf über 6,9 TW bis 2030 und 8 TW bis 2035 steigen.
Die Botschaft: Die Dynamik beschleunigt sich, politischer Wille wächst, Technologie wird günstiger und skalierbarer.
COP30 in Brasilien: Der Moment der Wahrheit
Die COP30 im Amazonas wird zum entscheidenden Moment. Brasiliens Präsident und IRENA-Chef La Camera haben in einem gemeinsamen Brief im September 2024 deutlich gemacht: „Alle Mann an Deck für die gerechte Energiewende.“
Was jetzt passieren muss:
- Ambitionierte nationale Ziele: Alle Länder müssen ihre NDCs mit konkreten, messbaren Erneuerbare-Energien-Zielen aktualisieren.
- Barrieren abbauen: Genehmigungen beschleunigen, Netze priorisieren, Speicher ausbauen.
- Finanzierungslücke schließen: Investitionen in Entwicklungsländern de-risken, Kapitalkosten senken, mehr Zuschüsse statt Schulden.
- Faire Lieferketten: Transparente Handelspraktiken, lokale Wertschöpfung fördern, nicht durch Zölle abwürgen.
- Fachkräfte qualifizieren: 16 Millionen Menschen arbeiten bereits in erneuerbaren Energien – Millionen weitere werden gebraucht.
Die Disruption ist unaufhaltsam – aber nicht schnell genug
Was der IRENA-Report eindrucksvoll zeigt: Die Energiewende ist keine Frage des Ob, sondern des Wie schnell. Die Technologien sind da, die Kosten sind niedrig, die Arbeitsplätze sind real, die Investoren sind interessiert.
Was fehlt, ist vor allem politischer Mut: Mut, fossile Subventionen zu streichen, Genehmigungen zu beschleunigen, in Netze zu investieren und Entwicklungsländern faire Finanzierung zu ermöglichen.
Die gute Nachricht: Das 1,5-Grad-Ziel ist noch erreichbar. Die 900-Gigawatt-Lücke kann geschlossen werden. Solar-PV zeigt, wie’s geht. Jetzt müssen Wind, Wasser, Speicher und vor allem die Energieeffizienz nachziehen.
Ben Backwell, Vorsitzender der Global Renewables Alliance, fasst es perfekt zusammen: „Die COP30 ist der Moment für Weltführer, ‚mutirão‘ zu zeigen – kollektive Anstrengung. Jetzt ist die Zeit, von Verpflichtungen zu Umsetzung überzugehen. Dies ist mehr als eine Energiewende – es ist eine globale Transformation, die Jobs, Wachstum und Sicherheit für alle schaffen wird.“
Die Disruption hat begonnen. Sie muss sich nur noch auf mehr Länder ausweiten und schneller werden. Die Werkzeuge liegen bereit. Es ist Zeit, sie zu nutzen.
Download der Studie: IRENA, COP30 und Global Renewables Alliance (2025): „Delivering on the UAE Consensus: Tracking progress toward tripling renewable energy capacity and doubling energy efficiency by 2030“