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Industriestrompreis als Schmerzmittel – und was er nicht heilt

CDU-Ministerin Reiche bringt ein Instrument, das Merz einst kritisierte – und löst eine wirtschaftspolitische Debatte aus

Ein Artikel im Handelsblatt vom 3. November 2025 bringt Klarheit über ein Thema, das seit Monaten in der energieintensiven Industrie, aber auch in der Bundespolitik für hitzige Diskussionen sorgt: den Industriestrompreis. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) kündigte auf einer Industriekonferenz an, das Instrument ab dem 1. Januar 2026 einzuführen. Eine Allianz aus Dena, Epico KlimaInnovation und Agora Energiewende hat nun ein Konzept vorgelegt, das die mögliche Ausgestaltung skizziert.

Der Industriestrompreis soll Unternehmen von den weiterhin noch zu hohen Stromkosten entlasten – doch klar ist: „Er wirkt wie ein Schmerzmittel„, sagt Epico-Gründer Bernd Weber. Damit ist gemeint: Der Preis dämpft kurzfristig den Schmerz, heilt aber nicht die Ursachen der Wettbewerbsprobleme. Bisher gab es allerdings große Sorge, ob ein Industriestrompreis an Brüssel scheitern werde.

Was der Industriestrompreis bewirken soll

Die Industrie in Deutschland leidet auch drei Jahre nach der Energiekrise 2022 unter hohen Strompreisen, die insbesondere von den zu hohen Gaspreisen getrieben werden. Zwar haben sich diese nach dem Hoch der Krise gedrittelt, doch liegen sie für viele Unternehmen noch immer deutlich über dem Vorkrisenniveau.

  • Größere Verbraucher zahlen derzeit rund 11 Cent pro Kilowattstunde, 2020 waren es 6 Cent.
  • Besonders energieintensive Unternehmen wie Aurubis zahlten früher 5 Cent, heute 7 Cent.
  • Für Aurubis bedeutet das jährlich 20 Millionen Euro mehr Stromkosten.

Laut Konzept von Dena, Epico und Agora sollen rund 2000 energieintensive Unternehmen mit einem Strompreis von 5 Cent/kWh entlastet werden. Der Staat würde die Differenz zwischen einem Referenzpreis (z. B. 8 Cent) und dem Zielpreis von 5 Cent je Kilowattstunde zahlen – maximal für die Hälfte des Stromverbrauchs. Die Kosten für den Bund: rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für maximal drei Jahre.

Politische Ironie: Was einst „Subventionitis“ war, ist jetzt Regierungspolitik

Bemerkenswert ist dabei der politische Hintergrund: Robert Habeck, Reiches Vorgänger im Bundeswirtschaftsministerium, hatte bereits 2023 einen Industriestrompreis vorgeschlagen. Die CDU, damals in der Opposition, warf ihm dafür „Subventionitis“ vor. Heute ist es eine CDU-Ministerin, die genau dieses Instrument einführen will – und zwar nicht für die Zukunft, sondern rückwirkend für das Jahr 2025.

Habeck wollte einen Brückenstrompreis einführen. Merz lehnte das ab. Reiche kommt nun mit dem Industriestrompreis sehr spät.
2023 noch bekämpft: Jetzt das Mittel der Wahl. Katherina Reiche führt einen Industriestrompreis ein.

Das zeigt nicht nur die Pragmatik, zu der sich die neue schwarz-rote Bundesregierung offenbar durchgerungen hat. Es legt auch offen, wie sehr sich wirtschaftspolitische Gewissheiten verschieben, wenn die eigene Industriestruktur in Gefahr ist.

Hätte ein früherer Industriestrompreis den Einbruch bei den Investitionen verhindern können?

KfW Kapazitaetsauslastung

Die Grafik der KIfW vom Januar 2025 wirft eine drängende Frage auf: Wären diese Investitionen auch dann so massiv eingebrochen, wenn bereits 2023 ein Industrie- oder Brückenstrompreis eingeführt worden wäre?

Die Abbildung zeigt, wie sehr der Einbruch bei den Investitionen mit der Kapazitätsauslastung korreliert. Bedeutet: Die Unternehmen haben schlicht zu wenig Nachfrage. Das wird sich ökonomisch mit Angebotspolitik allein nicht lösen lassen.

Was es braucht ist ein kräftiger Nachfrageschub – etwa durch eine Mehrwertsteuerreform, die Transformationsgüter verbilligt und Fossilgüter verteuert. Auch Zinssenkungen und die Reduzierung von Abgaben könnten entsprechende Kaufkraft-Impulse setzen.

Die Merz-Bundesregierung hat die Abschreibungsmöglichkeiten verbessert – aber wieso sollte zusätzlich investiert werden, wenn die Kapazitäten nicht ausgelastet sind? Für effizienzsteigernde Investitionen gibt es angesichts der Debatte um Klimaziele und Emissionshandel ebenfalls wenig Anlass.

Zurück zu den Investitionen: Laut Studien von IW, DIHK und anderen Verbänden haben mehr als 70 Prozent der energieintensiven Unternehmen Investitionen ins Ausland verlagert oder auf Eis gelegt. Die Verunsicherung durch volatile Energiepreise war ein zentraler Treiber. Ein gezieltes, temporäres Instrument zur Kostenstabilisierung hätte diesen Trend womöglich abschwächen können.

Verpflichtungen und Wirkung: Subvention gegen Dekarbonisierung

Der Industriestrompreis ist nicht bedingungslos: Unternehmen sollen mindestens 50 Prozent der erhaltenen Subventionen in Dekarbonisierung investieren. Dazu zählen:

  • Eigene Erzeugung von Erneuerbaren (z. B. PV, Wind)
  • Speichertechnologien
  • Effizienzsteigerung
  • Wasserstoff-Elektrolyseure

Optional könnten Unternehmen, die 80 Prozent ihrer Mittel in Flexibilität investieren, einen Bonus von 10 Prozent erhalten.

Zugleich soll es keine Doppelförderung geben: Wer bereits Strompreiskompensation aus dem CO2-Zertifikatehandel erhält, bekommt nur die höhere der beiden Hilfen.

Kritikpunkte und offene Fragen

Trotz der positiven Effekte bleibt der Industriestrompreis ein temporäres Pflaster. Er ändert nichts an den strukturellen Problemen:

  • Hohe Netzentgelte in Deutschland, besonders für Mittelstand
  • Langsame Genehmigungen für EE-Anlagen und Netze
  • Geringe Integration von PPA-Modellen (Direktvermarktung von Erneuerbaren)

Auch der Mittelstand fühlt sich abgehängt: Während Großverbraucher entlastet werden, schlagen sich viele KMU mit volatilen Preisen herum. Vorschläge wie gedeckelte Netzentgelte oder Stromsteuerabsenkungen für alle wurden bislang nicht umgesetzt.

Schmerzmittel ja – Therapie fehlt

Der Industriestrompreis ist ein notwendiger und pragmatischer Schritt, um Deutschlands energieintensive Industrie kurzfristig wettbewerbsfähig zu halten. Doch er ist kein Allheilmittel. Seine Einführung zeigt, wie stark wirtschaftlicher Druck politische Ideologie auflösen kann. Und er wirft die Frage auf: Warum nicht früher?

Die strukturelle Transformation braucht langfristig mehr als Schmerzmittel. Sie braucht eine nachhaltige Strommarktarchitektur, faire Lastenverteilung – und den Mut, neue Industriestrukturen zuzulassen.

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