STATCOM-Anlage von GE Vernova
STATCOM: Elektronische Schwungmasse für die Netzstabilität
Wie netzbildende Static Synchronous Compensator mit Blindleistung die Netzspannung stabilisieren
Die Struktur der Energieversorgung in Deutschland ändert sich: Durch die Energiewende gehen fossile Großkraftwerke, die essentielle Systemdienstleistungen erbracht haben, immer seltener ans Netz. Diese mechanische Schwungmasse wird auf Übertragungsnetzebene zunehmend durch sogenannte STATCOMs ersetzt. Diese netzbildenden Static Synchronous Compensators sollen mit Blindleistung die Netzspannung auf regionaler Ebene stabilisieren. Der Artikel beleuchtet die aktuelle Großoffensive der Übertragungsnetzbetreiber beim Einsatz solcher Anlagen.
In Mannheim-Rheinau steht seit Mai 2025 eine der weltweit leistungsstärksten STATCOM-Anlagen: 58 Millionen Euro investierte der Übertragungsnetzbetreiber Amprion in diese Hochtechnologie mit 600 Mvar Blindleistung bei 380 Kilovolt. Die von Siemens Energy gelieferte SVC PLUS-Technologie ergänzt ein Umspannwerk, das bereits seit über 100 Jahren ein zentraler Knotenpunkt im südwestdeutschen Stromnetz ist.
„Die Struktur der Energieversorgung ändert sich grundlegend„, erklärte Amprion-CEO Dr. Christoph Müller bei der Inbetriebnahme. „Anlagen wie die STATCOM sind nötig, um Systemdienstleistungen künftig eigenständig bereitzustellen, die früher von großen Kraftwerken erbracht wurden.„
Diese Anlage ist mehr als nur ein regionales Infrastrukturprojekt – sie symbolisiert eine deutschlandweite technische Revolution: Während auf der Verteilnetzebene erste netzbildende Wechselrichter in Batteriespeichern ihre Schwarzstartfähigkeit unter Beweis stellen, rüsten die Übertragungsnetzbetreiber mit einer neuen Generation von STATCOM-Anlagen für die nächste Stufe der Energiewende.
Diese Static Synchronous Compensators sollen die Systemdienstleistungen übernehmen, die bisher von rotierenden Kraftwerksgeneratoren erbracht wurden – ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der Netztechnik.
Was klassische STATCOMs leisten – und wo ihre Grenzen liegen
Klassische Spannungsstabilisierer-Anlagen arbeiten seit Jahren als „elektronische Schwungmasse“ im Übertragungsnetz. Sie regeln ausschließlich Blindleistung – gemessen in Megavar (Mvar) – und stabilisieren damit die Netzspannung. Diese Blindleistung ist jene elektrische Energie, die für die Spannungsregelung benötigt wird, aber keine Arbeit verrichtet.
Doch diese erste Generation hat entscheidende Grenzen: Sie kann weder Wirkleistung bereitstellen noch eigenständig ein Netz aufbauen. Hier setzt die nächste Evolutionsstufe an.
STATCOM 2.0: Wenn Blindleistung auf Energiespeicher trifft
Andreas Schmitz, bekannt als „Akkudoktor„, beschreibt die neue Generation: „Das sind riesige Anlagen mit einer unfassbaren Wirkleistung von mehreren Megawatt zusätzlich zu ihrer Blindleistung. Also wir sprechen hier teilweise von 50, 100 oder noch mehr Megawatt. Und die können Blind- und Wirkleistungen in Millisekunden entnehmen und auch abgeben. Und damit können die Spannung und Frequenz gleichzeitig regeln.“
Der entscheidende Unterschied: Während klassische Static Synchronous Compensator nur die Spannung regeln, kombinieren 2.0-Systeme dies mit Frequenzregelung durch integrierte Energiespeicher. Schmitz‘ Megawatt-Angaben beziehen sich auf die Wirkleistung der integrierten Speicher, während die Mvar-Werte die Blindleistungskapazität beschreiben.
Diese Kombination macht moderne E-STATCOMs so revolutionär: 150 MW Wirkleistung für die Frequenzregelung plus hunderte Mvar Blindleistung für die Spannungsregelung in einem System. Schmitz kündigt im Video eine weitergehende Technologie von Siemens und TenneT an.
50Hertz plant Großoffensive: Über 16.000 Mvar bis 2045
Die Dimensionen sind beeindruckend: Allein 50Hertz plant laut Netzentwicklungsplan bis 2037/2045 über 16.000 Mvar STATCOM-Leistung. Zum Vergleich: Das entspricht der Blindleistung von etwa 15-20 großen Kohlekraftwerken – verteilt auf eine zweistellige Anzahl von Anlagen. Diese Offensive zeigt: Die Übertragungsnetzbetreiber haben erkannt, dass ohne diese Technologie die angestrebten 80 Prozent erneuerbarer Energien bis 2030 nicht netzstabil integrierbar sind.
Schon in der Realisierung befinden sich mehrere Großprojekte: In Malchow/Berlin entsteht das erste E-STATCOM 2.0-System für einen deutschen Übertragungsnetzbetreiber. Die Anlage von 50Hertz und NIDEC Conversion soll 150 MW Wirkleistung in nur 1,25 Sekunden bereitstellen können – ermöglicht durch innovative Superkondensator-Module für schnellste Entlade- und Ladezeiten.
Superkondensatoren: Der Schlüssel zur Millisekunden-Reaktion
Hier kommt Skeleton Technologies ins Spiel – der europäische Marktführer für Superkondensatoren mit Hauptsitz in Tallinn und Produktion in Deutschland. Das Unternehmen spezialisiert sich auf Supercaps auf Basis von „Curved Graphene“ und hat eine beeindruckende technische Überlegenheit entwickelt: 2x höhere Energiedichte, 4x höhere Leistungsdichte und 50% weniger Verluste als die Konkurrenz.
Mit einer 220-Millionen-Euro-Investition baut Skeleton Technologies in Leipzig/Markranstädt eine neue Megafabrik mit einer Kapazität von 12 Millionen Supercaps pro Jahr. Die SkelGrid Cabinets sind speziell für E-STATCOM-Anwendungen entwickelt und ermöglichen über 1 Million Lade-/Entladezyklen bei extrem hoher Leistung für kurze Zeit.
Von Grid-Following zu Grid-Forming: Der Paradigmenwechsel
Andreas Schmitz erklärt das fundamentale Problem: „Konventionelle erneuerbare Energien benötigen ein stabiles Netz als Referenz und können kein Netz bilden – ein Problem bei schwacher Netzstabilität.“ Die Lösung liegt in der Grid-Forming-Technologie: „Netzbildende Wechselrichter verhalten sich wie Spannungsquelle, reagieren sofort auf Frequenzänderungen und ahmen das Verhalten großer Generatoren nach.„
Diese Revolution findet auf zwei Ebenen statt: Auf der Verteilnetzebene (110 kV und darunter) können bereits vorhandene Millionen von Wechselrichtern ihre Blindleistungsfähigkeit nutzen – bei praktisch null Zusatzkosten und Einsparungen von 450-700 Millionen Euro jährlich. Schmitz‘ Beispiel: „Eine 27 kW PV-Anlage mit 5 Prozent Blindleistung kann 20 Prozent Spannungsreduktion bewirken.“
Das Problem: „Oft ist die Funktion nicht aktiviert oder falsch konfiguriert.„
E-STATCOM: Der Game Changer der Energiewende
Die wahre Revolution liegt in der Kombination verschiedener Technologien:
- STATCOM: Blindleistungsregelung für Spannungsstabilität
- Energiespeicher: Wirkleistungsregelung für Frequenzstabilität
- Grid-Forming: Netzbildende Eigenschaften
- Supercaps: Millisekunden-Reaktion für Momentanreserve
Diese Hybridlösung übernimmt faktisch alle Systemdienstleistungen konventioneller Kraftwerke – ohne deren CO₂-Emissionen. In Wendlingen und Oberjettingen realisiert TransnetBW mit Hitachi Energy ab 2025 die ersten STATCOM-GFM-Anlagen (Grid-Forming) mit Supercaps für wenige Sekunden Wirkleistung. Der Projektleiter charakterisiert die Technologie treffend: „Die STATCOM ist der Spiderman der Blindleistungs-Kompensationsanlagen.“
Die bereits erfolgreiche Inbetriebnahme in Mannheim-Rheinau demonstriert dabei, dass Deutschland bereits heute über die technologischen Voraussetzungen für diesen Wandel verfügt. Für die Metropolregion Rhein-Neckar bedeutet die Anlage mehr als nur Infrastruktur – sie stärkt die Versorgungssicherheit in einem Wirtschaftsraum mit hoher industrieller Dichte und wachsender digitaler Infrastruktur.
Bundesnetzagentur bestätigt: Static Synchronous Compensator ist Schlüsseltechnologie
Der Systemstabilitätsbericht 2025 der Bundesnetzagentur bestätigt die strategische Bedeutung: Für den Untersuchungszeitraum 2027-2037 sind umfassende Maßnahmen für die Netzstabilität notwendig. Die BNetzA-Empfehlung zur Prüfung zusätzlicher Anlagen ist bereits genehmigt und in Umsetzung.
Die größte technische Herausforderung liegt in der Koordination: Während früher wenige Großkraftwerke zentral gesteuert wurden, müssen künftig Millionen dezentraler Erzeuger, Speicher und STATCOM-Anlagen harmonisch zusammenwirken. Diese Technologie ist dabei nur ein Baustein im komplexen Puzzle der Energiewende.
Zusammen mit netzbildenden Wechselrichtern, Superkondensatoren, regelbaren Ortsnetztransformatoren und intelligenten Netzmanagement-Systemen bilden sie das Rückgrat eines dekarbonisierten Energiesystems. Die Technologie ist verfügbar – jetzt geht es um die systematische Skalierung einer elektronischen Schwungmasse für die Klimaneutralität.