
Regionale Intelligenz statt zentraler Trägheit: Wie digitalisierte Verteilnetze die Energiewende beschleunigen
Batteriespeicher boomen – aber die Netze und deren Regulierung sind noch nicht bereit
Die Kostenexplosion bei Netzentgelten und Redispatch-Maßnahmen zeigt: Der Flaschenhals der Energiewende liegt zunehmend im Stromnetz – nicht bei Wind- oder Solaranlagen. Ein Umdenken ist nötig. Statt pauschalem Netzausbau braucht es intelligente, dezentrale Strukturen mit digitaler Steuerung, regionalen Preissignalen und zellulären Energienetzen. Regionale Intelligenz ist dabei der Schlüsselbegriff – sie beschreibt ein System, das sich flexibel, standortgerecht und datenbasiert selbst steuert. Gerade im Verteilnetz zeigt sich: Ohne regionale Intelligenz droht ein teurer und ineffizienter Netzausbau, der die Dynamik der Energiewende bremst statt beflügelt.
In den vergangenen zehn Jahren sind die Preise für Großbatteriespeicher um über 90 Prozent gefallen, schreibt etwa Tim Meyer in seinem Spiegel-Bestseller „Strom“ (*Provisions-Link). Das hat einen Investitionsboom ausgelöst: Kapitalrenditen von 15 Prozent und mehr erscheinen möglich – sofern Netzanschlüsse genehmigt werden. Die Anträge bei den Netzbetreibern häufen sich.
„Der Boom hat die klassische Energiewirtschaft alarmiert“, sagte Urban Windelen vom Bundesverband Energiespeicher BVES im Gespräch mit Uwe Jean Heuser in DIE ZEIT (Link).
Im Januar 2025 summierte sich allein bei den vier Übertragungsnetzbetreibern die angefragte Anschlussleistung auf rund 226 Gigawatt. Zum Vergleich: Das frühere BMWK plante für das Jahr 2037 mit 24 GW, das Fraunhofer ISE hält sogar das Vierfache für realistisch. Die hohe Diskrepanz zeigt: Netzanschlüsse sind der neue Flaschenhals.
„Diese Genehmigungen sind bares Geld wert“, erklärt Prof. Lion Hirth von der Hertie School gegenüber Cleanthinking.de. Projektierer beantragen oft mehrere Standorte parallel – da die Anschlussbegehren günstig und unverbindlich sind. Das führt zu einer Flut an Anträgen, während die Netzbetreiber längst vor einem „Batterie-Tsunami“ warnen.
Zugleich sind die regulatorischen Rahmenbedingungen unklar. Derzeit gilt ein Übergangsregime, das in wenigen Jahren ausläuft. Speicherfirmen rechnen damit, künftig Netzentgelte zu zahlen – und zugleich netzdienlich agieren zu müssen.
Offen bleibt, wie genau diese Vorgaben ausgestaltet werden und welche wirtschaftlichen Folgen sie für die Betreiber haben.
Speicher sind nützlich – bei den richtigen Marktbedingungen
In einer Studie für das Unternehmen Eco Stor kommt Hirth zu dem Schluss: Zwar könne es in Einzelfällen zu Belastungen kommen, insgesamt entlasten Speicher das Netz leicht. Entscheidender sei das Umfeld: „Die Batterien könnten viel mehr bewirken im richtigen Umfeld“, betont Hirth.
Als ideal sieht er regionale Preiszonen, bei denen sich Marktwerte nach realen Netzverhältnissen unterscheiden. Alternativ nennt er dynamische Netzentgelte, die sich mehrmals pro Stunde ändern und bei netzdienlicher Wirkung sogar Zuschüsse ermöglichen könnten. Doch: „Viele Netzbetreiber mögen eine solche dynamische Lösung nicht“, berichtet Hirth. Sie sei ihnen zu komplex und erfordere eine starke Digitalisierung.“
Gleichzeitig kritisiert Hirth, dass die heutigen Preissignale – z. B. im Day-Ahead-Markt oder Regelenergiemarkt – nicht die tatsächliche lokale Netzsituation widerspiegeln. Das führe dazu, dass sich Speicher mitunter netzschädlich verhalten, etwa bei niedriger Last und hoher PV-Einspeisung an Feiertagen.
Reaktive Netzplanung, überhöhte Renditen, fehlende Digitalisierung
Die bestehenden Strukturen setzen auf zentralisierte Planung und zögerlichen Ausbau. Laut Bundesverband Neue Energiewirtschaft (bne) lagen die durchschnittlichen Eigenkapitalrenditen der Verteilnetzbetreiber 2023 bei 20,2 % – deutlich über dem Zielkorridor der Anreizregulierung.
„Wenn Netzbetreiber derartige Renditen erzielen können, dann läuft im Regulierungsrahmen etwas grundsätzlich schief“, kritisiert bne-Geschäftsführer Robert Busch.
Besonders auffällig: Einzelne Betreiber wie EWE Netze (50 %), Pfalzwerke Netz (39 %) oder Westnetz (27 %) erzielten hohe Gewinne – möglich u. a. durch strategische Kostenanpassungen, doppelte Inflationsausgleiche oder eingepreiste, aber nicht gezahlte Gewerbesteuern.
Reformvorschläge für die Netzregulierung
Im Rahmen des NEST-Verfahrens fordert der bne eine tiefgreifende Reform:
- Transparenz & Kostenkontrolle
- Veröffentlichung realer Eigenkapitalrenditen
- Leistungsabhängige Renditen für Netzbetreiber – z. B. für Digitalisierung, Koordination, technische Standardisierung
Busch betont, dass die Netzentgelte „nicht weiter zur Renditemaximierung eines Monopols“ genutzt werden dürften. Stattdessen müssten sie Investitionen in die Netztransformation fördern.
Zelluläre Energienetze, Regionale Intelligenz und Sektorenkopplung
Ein zukunftsweisender Ansatz zur Überwindung bestehender Engpässe liegt in der Idee der zellulären Energienetze. Dabei handelt es sich um kleinteilig strukturierte Netzeinheiten, die lokal Strom erzeugen, speichern, verbrauchen und steuern. Diese Zellen könnten perspektivisch entlang der rund 800 bestehenden Netzgebiete entstehen und eigenverantwortlich für Netzstabilität sorgen – sektorgekoppelt, transparent und automatisiert. Entscheidend ist dabei die Digitalisierung auf Mittelspannungsebene, etwa durch regelbare Ortsnetztrafos, intelligente Messsysteme und standardisierte Datenschnittstellen.
Ein besonders fortschrittliches Beispiel liefert das Projekt Eco Stor in Bollingstedt. Dort hat der Betreiber nicht nur einen leistungsfähigen Batteriespeicher installiert, sondern auch ein digitales Abbild der gesamten Anlage entwickelt und mit dem lokalen Netzbetreiber verknüpft. Durch diese virtuelle Kopplung ist es möglich, die Anlage in Echtzeit netzdienlich zu steuern – sowohl im Hinblick auf Lastflüsse als auch auf Frequenzstabilität.
Bollingstedt zeigt exemplarisch, was technologisch bereits heute möglich ist, wenn Akteure kooperieren und die Digitalisierung konsequent umsetzen. Der entscheidende Unterschied: Statt auf Signale aus einem zentralen Markt zu reagieren, kann das System dort auf reale physikalische Gegebenheiten im Netz eingehen – und das Netz entlasten, statt es zusätzlich zu belasten.
Rolle des Bundes, politisches Dilemma – und ein strukturelles Missverständnis
Damit solche Lösungen flächendeckend Wirkung entfalten können, braucht es eine neue Rollendefinition für den Bund. Seine Aufgabe sollte künftig nicht mehr darin bestehen, jedes Detail zentral zu steuern – sondern die Voraussetzungen für ein intelligentes, dezentrales Energiesystem zu schaffen. Dazu gehört der gezielte Ausbau strategischer Infrastruktur wie Offshore-Wind, Wasserstoff-Kernnetz und Stromautobahnen, aber auch die Koordination des europäischen Stromhandels und die Absicherung von Langzeitreserven.
Ob diese strategische Neuausrichtung gelingt, ist offen. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche hat für den Sommer 2025 einen „Realitätscheck“ zur Bezahlbarkeit der Energiewende angekündigt. Dass es in Wahrheit nicht um eine zentrale Großlösung gehen kann, sondern um ein Netzwerk aus regional intelligent gesteuerten Zellen, macht auch der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und Energiepolitiker Klaus Mindrup deutlich. In einem viel beachteten Interview mit n-tv sagte er: „Ein großes Stromnetz für Erneuerbare? Das geht nicht. Nie.“ (Quelle).
Der Grund: Die volatilen Einspeisungen aus Wind und Sonne lassen sich physikalisch nicht stabil durch ein einziges nationales Netz auffangen – insbesondere, wenn man auf Redispatch und Abregelung möglichst verzichten will. Die Alternative liegt in der Stärkung regionaler Resilienz und lokaler Ausgleichsmechanismen – technologisch möglich, aber politisch bislang unterbewertet. Dieser könnte zum Lackmustest für marktbasierte Instrumente wie regionale Preiszonen oder dynamische Netzentgelte werden.
Denn obwohl diese Instrumente Effizienzgewinne und Netzstabilität versprechen, scheinen sie politisch nicht konsensfähig. Noch dominieren Bedenken über soziale Ausgewogenheit und Steuerbarkeit. Doch ohne echte Preissignale bleibt das System blind für regionale Knappheiten – und ineffizient.
„Bei diesem Kernproblem denken viele Wissenschaftler ganz ähnlich: Statt des einheitlichen Arbeitspreises braucht es mehrere Gebotszonen oder sogar das weiterführende ‚Nodal Pricing‘, um paradoxe Netzsituationen zu verhindern“, so Hirth.
Fazit: Neue Regeln für ein neues Netz
Die Energiewende steht an einem Wendepunkt. Die Erzeugungstechnologien sind weitgehend bereit – was fehlt, ist ein Netzsystem, das ihre Potenziale effizient und stabil integriert. Der Schlüssel liegt in einer klugen Kombination aus Digitalisierung, Dezentralität und marktwirtschaftlicher Steuerung.
Zelluläre Energienetze wie in Bollingstedt zeigen, dass die technische Machbarkeit längst gegeben ist. Besonders in Verbindung mit Sektorenkopplung – also der intelligenten Verzahnung von Strom, Wärme, Mobilität und Industrieprozessen – können sie ein echtes Rückgrat für ein regional stabiles, resilientes Energiesystem bilden. Lokal erzeugte Energie wird dabei nicht nur gespeichert, sondern je nach Bedarf auch direkt in Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur oder industrielle Anwendungen weitergeleitet.
So lassen sich Lastspitzen reduzieren, Flexibilitäten effizient nutzen und unnötige Netzausbaukosten vermeiden. Jetzt braucht es einen Regulierungsrahmen, der solche Lösungen nicht ausbremst, sondern gezielt fördert. Dazu gehören differenzierte Preissignale, ein transparenter Umgang mit Netzrenditen, konsequente Digitalisierung auf Verteilnetzebene und neue Anreize für netzdienliches Verhalten.
Die Vision: Ein Energiesystem, das nicht zentral reagiert, sondern lokal antizipiert. Das Flexibilität belohnt und Stabilität belohnt. Und das Strom dort fließen lässt, wo er gebraucht wird – nicht nur, wo er billig ist. Nur so lässt sich die Energiewende wirtschaftlich tragfähig und sozial gerecht realisieren.
Buchtipp:
Thema dieses Nachschlagewerkes (*Provisions-Link) ist die Transformation der zur Zeit vorherrschenden zentralen Energiesysteme hin zu dezentralen Systemen, genauer zellularen Energiesystemen, vor dem Hintergrund der Energiewende.
Die Autoren zeigen auf, welche Vorteile der zellulare Ansatz umfasst und wie es gelingt, die einzelnen Zellen und Systeme geordnet zusammenwachsen zu lassen, damit sie einen wichtigen Beitrag zur Netzstabilität leisten können. Die Autoren stellen die Komponenten vor, die in zellularen Systemen zum Einsatz kommen und betrachten die möglichen Teilsysteme, wie Gebäude und Quartiere.
Die Verbraucher und der Transport der Energie sowie die systemischen Abhängigkeiten werden behandelt. Regionale und überregionale Energiemärkte werden untersucht und darüber hinaus die Kommunikationstechnologien, die als Teil der Infrastruktur die Datenübermittlung sicherstellen. Mehrere Beispiele zellularer Energiesystem-Projekte aus der Praxis sowie Betrachtungen zur Resilienz runden die Darstellung ab.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.