
Die Milliarden-Lobby: Wie Deutschland in der Energiekrise seine Unabhängigkeit verspielt
Götze und Joeres zeigen, wie fossile Lobbygruppen politische Reformen verhindern und Deutschland in riskanten Abhängigkeiten halten.
Die Energiekrise ab 2022 hätte der Wendepunkt sein können – doch stattdessen hat sich Deutschland tiefer in die fossile Falle manövriert. Die Milliarden-Lobby von Götze und Joeres (Provisions-Link) rekonstruiert detailliert, wie Lobbygruppen, Medienkampagnen und politische Trägheit eine historische Chance verspielt haben. Das Buch liefert eine messerscharfe Analyse und zieht dabei deutliche Parallelen zur systemischen Blockade der Wärmewende, dem Mythos „grüner Wasserstoff“ und den geopolitischen Abhängigkeiten fossiler Lieferketten.
Wer sind die Autorinnen?
Susanne Götze und Annika Joeres sind profilierte Journalistinnen mit Spezialisierung auf Klima- und Energiepolitik. Götze arbeitet u.a. für den SPIEGEL, Joeres schreibt u.a. für Correctiv und die ZEIT. Beide gehören zu den wichtigsten Stimmen des konstruktiv-kritischen Klimajournalismus in Deutschland. Bereits mit ihren Büchern Klima außer Kontrolle und Die Klimaschmutzlobby haben sie systematische Machtverflechtungen zwischen fossilen Industrien, Politik und Medien sichtbar gemacht.
Ihr Stil ist präzise, faktenreich und dennoch zugänglich. Sie schreiben reportagehaft, eingebettet in gut belegte Zusammenhänge – etwa wenn sie den absurden Medienhype um das Gebäudeenergiegesetz (GEG) mit konkreten Zitaten und Zahlen aufdröseln. Das macht Die Milliarden-Lobby zu einem journalistisch hochwertigen, streitbaren und gleichzeitig verständlichen Werk.
Technologische Blockade durch Lobbyismus
Ob es um das GEG, den Gasausstieg oder E-Fuels geht – das Buch legt dar, wie gezielte Kampagnen Stimmung gegen zukunftsfähige Lösungen machen. Besonders eindrücklich ist die mediale Zerschlagung des GEG: Eine Allianz aus konservativen Kräften, FDP-Vertretern und der Springer-Presse lancierte ein Framing von der „Zwangs-Wärmepumpe“ bis zur „Atombombe gegen Eigentümer“, das progressive Politik unmöglich machte.
Ein Beispiel: Der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler twitterte, Wärmepumpen würden „150.000 Euro“ kosten – eine absurde Fantasiezahl, die sich dennoch medial festsetzte. Die Autorinnen zeigen: Es war eine orchestrierte Kampagne, getragen von einem Netzwerk aus wirtschaftsnahen Denkfabriken, politischen Hardlinern und publizistischen Multiplikatoren, allen voran aus dem Umfeld der FDP und des Axel-Springer-Verlags.
Gleichzeitig analysieren Götze und Joeres minutiös die Rolle der BILD-Zeitung, die mit Schlagzeilen wie „Habecks Heiz-Hammer“ oder „Wärmepumpen-Muffeln drohen Mega-Strafen“ einen emotional aufgeladenen Protest gegen Klimaschutzmaßnahmen inszenierte. Das Ziel: Angst erzeugen, Deutungshoheit gewinnen, Reformen verhindern.
Diese Strategien erinnern stark an Claudia Kemferts Schockwellen, in dem sie die strukturelle Vernachlässigung der Energiewende und das Risiko fossiler Abhängigkeiten analysiert – allerdings mit stärkerem Fokus auf volkswirtschaftliche Kosten und resiliente Systeme. Die Milliarden-Lobby konkretisiert diese Analysen durch eindrucksvolle Beispiele und Akteursanalysen aus der politischen Praxis.
Fossile Männlichkeitsmythen – die emotionale Basis
Auch auf kultureller Ebene zeigt das Buch, wie Verbrennerautos, Gasheizungen und Fleischkonsum als identitätsstiftende Marker tradiert werden – eine Perspektive, die Christian Stöcker in Männer, die die Welt verbrennen vertieft. Die fossilen Profiteure sind meist männlich, privilegiert, politisch vernetzt und medienwirksam. Der Rückgriff auf nostalgische Technik-Symbole bedient eine kollektive Verlustangst und verhindert Transformation.
Zitat aus dem Buch: „Wärmepumpen wurden zur Projektionsfläche für Verlustängste – dabei standen längst funktionierende Systeme im Harz, unbeachtet und emissionsfrei.“
Wer sind die Profiteure der Gasabhängigkeit?
Götze und Joeres benennen in ihrem Buch Die Milliarden-Lobby einflussreiche Profiteure entlang der fossilen Lieferkette: Von internationalen Konzernen wie ExxonMobil, Shell, BP und dem deutschen Wintershall Dea über die Gasimporteure SEFE (ehemals Gazprom Germania) und Uniper bis hin zu Stadtwerken, Netzbetreibern wie Open Grid Europe und politischen Entscheidern. Auch Lobbyverbände wie der BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) oder der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) wirken aktiv an der Aufrechterhaltung der Gasinfrastruktur mit.
Besonders eindrücklich: Der jährlich geschätzte Umsatzverlust für die fossile Gaswirtschaft, sollte Deutschland vollständig auf Wärmepumpen umsteigen, liegt laut den Recherchen der Autorinnen bei rund 28 Milliarden Euro. Diese Summe ist der zentrale Anreiz, um politische und mediale Einflussnahme zu betreiben – gegen jede Form des Ausstiegs aus Gasheizungen.
Das Buch verweist zudem auf einen Rekordgewinn von 128 Milliarden US-Dollar der fünf größten Öl- und Gaskonzerne im Jahr 2023 – bei einem Investitionsanteil von lediglich vier Prozent in erneuerbare Energien. Ein systemischer Widerspruch, den Götze und Joeres faktenreich darlegen. Die fossile Industrie verteidigt ihre Gewinne – und dafür braucht sie stabile, politische Mehrheiten und eine verunsicherte Öffentlichkeit.
Die Milliarden-Lobby: Ein Buch mit Aufrüttelungspotenzial
Götze und Joeres gelingt ein seltener Spagat: Sie schreiben zugänglich und pointiert, ohne Komplexität zu verlieren. Das Buch kombiniert Reportageelemente mit investigativer Tiefe und liefert eine gut belegte Systemkritik an den fossilen Eliten. Es benennt Akteure, Netzwerke und politische Versäumnisse – und gibt klare Hinweise, wie eine echte Unabhängigkeit gelingen kann: durch systemische Förderung der Erneuerbaren, Stärkung dezentraler Versorgung und politisch mutige Entscheidungen.
Auch der angeblich grüne Hoffnungsträger Wasserstoff wird entzaubert: „Der Nationale Wasserstoffrat – ein einseitiges Gremium“, schreiben Götze und Joeres und belegen, wie auch dort alte fossile Akteure Einfluss ausüben.
Stadtwerke: Teil des Problems – und Teil der Lösung
Besonders kritisch fällt die Analyse der Autorinnen auf die rund 800 Stadtwerke in Deutschland. Diese sind in kommunaler Hand und fungieren als Zwischenhändler und Versorger – oft mit Beteiligungen an Gasnetzen oder eigenen Kraftwerken. Jahr für Jahr fließen Milliarden an Gewinnen aus dem Gasgeschäft in die Haushalte der Kommunen – was auf den ersten Blick sinnvoll klingt, aber in Wahrheit eine strukturelle Abhängigkeit erzeugt: Viele Bürgermeister*innen, Stadträte und kommunale Aufsichtsräte bremsen Klimaschutzmaßnahmen, weil sie fürchten, dass die Einnahmen aus fossilen Geschäften wegbrechen.
Das Buch benennt diese Verflechtungen unmissverständlich. Es zeigt aber auch Positivbeispiele: Einige Stadtwerke – etwa in München, Kiel oder Flensburg – investieren strategisch in Geothermie, Fernwärme oder Speicherlösungen und zeigen, dass eine zukunftssichere Energieversorgung ohne Gas möglich ist. Entscheidend ist der politische Wille vor Ort – und eine Reform des kommunalen Energierechts, die langfristige Klimaziele über kurzfristige Haushaltsinteressen stellt.
Wer verdient an der Gas-Wertschöpfungskette?
Die fossile Wertschöpfungskette beginnt bei der Förderung durch globale Konzerne wie Shell, BP, TotalEnergies, Equinor oder ExxonMobil. Diese verkaufen Gas an Trader wie Vitol, Trafigura oder Glencore, die wiederum an europäische Versorger liefern. In Deutschland profitieren Unternehmen wie Uniper, SEFE, EnBW, E.ON und RWE von der Importinfrastruktur und leiten das Gas an Stadtwerke, Industrie und Haushalte weiter.
Doch es sind nicht nur Unternehmen – auch Einzelpersonen profitieren: Ehemalige Minister wie Sigmar Gabriel (SPD) oder Ronald Pofalla (CDU) arbeiten heute für Energiekonzerne oder Lobbyorganisationen. Ökonomin Veronika Grimm sitzt sowohl im Sachverständigenrat der Bundesregierung als auch im Wasserstoffrat – und ist zugleich Aufsichtsrätin bei Siemens Energy, einem Unternehmen mit Gasinteressen. Diese personellen Verflechtungen sind Teil eines Systems, das Veränderungen blockiert.
Die Wende kommt – trotz Lobbydruck
Götze und Joeres lassen in Die Milliarden-Lobby keinen Zweifel daran: Die Abkehr von fossilen Brennstoffen ist nicht mehr aufzuhalten. Die ökonomischen, politischen und ökologischen Realitäten sprechen eine klare Sprache. Doch jede Verzögerung kostet Geld, Zeit – und Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Deshalb setzt die fossile Lobby alles daran, das Tempo zu drosseln. Sie schürt Zweifel, inszeniert Scheinlösungen und instrumentalisiert Emotionen.
Doch es gibt einen Gegenentwurf: eine souveräne, erneuerbare und dezentrale Energieversorgung. Das Buch schließt mit fünf konkreten Empfehlungen, was jede*r Einzelne tun kann:
- Heizung umstellen – auf Wärmepumpe, Fernwärme oder Biomasse, wo möglich
- Stromanbieter wechseln – zu echtem Ökostrom aus Neuanlagen
- Mobilität verändern – weniger Autofahrten, Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad oder E-Mobilität
- Politisch aktiv werden – kommunale Klimapolitik mitgestalten, Stadtwerke hinterfragen
- Bewusst konsumieren – regional, saisonal, energiearm und fleischreduziert
Jede dieser Maßnahmen ist ein Beitrag zur Unabhängigkeit – individuell, aber auch systemisch wirksam.
Fazit
Die Milliarden-Lobby ist Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, warum Deutschland trotz technologischer Alternativen weiterhin fossile Abhängigkeiten verteidigt. Zusammen mit Kemferts Schockwellen und Stöckers Männer, die die Welt verbrennen ergibt sich ein multiperspektivischer Blick auf eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: Den Bruch mit einem zerstörerischen Energiesystem – gegen den erbitterten Widerstand mächtiger Akteure.
Der Stil des Buches Die Milliarden-Lobby ist sachlich, klar und investigativ – mit einem journalistischen Anspruch, der sich nicht scheut, Ross und Reiter zu nennen. Ein Buch, das Missstände aufdeckt – und die strukturelle Grundlage für eine echte Energiewende sichtbar macht.
Mehr zu fossiler Lobbyarbeit und Medienkampagnen:
- Schockwellen – Claudia Kemfert
- Männer, die die Welt verbrennen – Christian Stöcker
- Buch-Rezension: „Energiewende 2.0“ von Gunnar Erik Brink

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.