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Jamaika nach Hurrikan Melissa: Die erste Stellar City der Welt?

Tony Sebas Think Tank RethinkX entwirft den Wiederaufbau der zerstörten Stadt Black River.

Am 28. Oktober 2025 traf Hurrikan Melissa auf Black River, eine Küstenstadt im Südwesten von Jamaika. Kategorie 5, 295 km/h – der stärkste Sturm, der die Insel seit 174 Jahren getroffen hat. 80 bis 90 Prozent der Dächer wurden abgerissen, das Krankenhaus zerstört, das Stromnetz ausgelöscht. Premierminister Andrew Holness nannte die Stadt nach seinem Überflug „Ground Zero“. Mindestens 45 Menschen starben. Wie soll Black River wiederaufgebaut werden? Tony Sebas Think Tank RethinkX hat eine Antwort – und nennt sie Stellar City.

Seba und seine Denkfabrik analysieren, wie neue Technologien ganze Branchen disrupieren. Eine Disruption ist der Moment, in dem eine neue Technologie die alte nicht nur verbessert, sondern vollständig verdrängt. Seba wurde bekannt mit der Prognose, dass Elektroautos, autonomes Fahren und Transport as a Service konvergieren – und das private Auto überflüssig machen.

In seinem Buch „Stellar“ beschreibt Seba u.a., wie Städte der Zukunft aussehen könnten, die die Vorteile disruptiver Innovationen konsequent nutzen. In einem Blogpost skizziert das Team eine radikale Idee: Black River soll nicht wiederaufgebaut, sondern gänzlich neu gedacht werden – als erste „Stellar City“ der Welt.

Black River: Jamaikas dritte Stadt?

Ausgerechnet Black River? Die Wahl ist kein Zufall. Die Küstenstadt war schon öfters Pionier: 1893 hatte Black River als erste Stadt der Insel elektrischen Strom, 1903 fuhren hier die ersten Automobile der Insel. Heute leben nur noch 5.000 Menschen in der Hauptstadt des Bezirks St. Elizabeth.

Doch schon vor der Katastrophe gab es große Pläne. Im Juli 2025 – drei Monate vor Hurrikan Melissa – verkündete Premierminister Holness eine ambitionierte Vision: Black River soll nach Kingston und Montego Bay zur dritten Stadt der paradiesischen Insel werden: „Jamaika hat nie eine Stadt von Grund auf geplant und gebaut. Nicht seit Spanish Town in der Kolonialzeit.“ Sein Ziel: „Ein Ort zum Leben, Arbeiten, Familien gründen – und im Paradies alt werden.

Die Urban Development Corporation – die staatliche Behörde für Stadtplanung – hatte den Bezirk als idealen Standort identifiziert. Die Pläne umfassten neue Verkehrswege, Bewässerungsprojekte für die Landwirtschaft und eine Waterfront-Entwicklung an der Black River Bay, wie der Jamaica Observer berichtet.

Dann kam Melissa. „Ground Zero“.

80 bis 90 Prozent der Dächer wurden zerstört. Das Krankenhaus: dem Erdboden gleich. Das Stromnetz: komplett ausgelöscht – mehr als 500.000 Jamaiker*innen ohne Strom, manche für Wochen. Dutzende Straßen durch Erdrutsche blockiert. St. Elizabeth, die „Brotkammer“, verlor zehntausende Farmen.

Black River nach Hurrikan Melissa: 80 bis 90 Prozent der Dächer zerstört. Quelle: Office of the Prime Minister, Jamaica

Holness nannte Black River nach seinem Überflug „Ground Zero“. „Die Stadt ist zerstört. Aber wir können uns eine Zukunft vorstellen, in der sie stärker und besser wiederaufersteht. Denn die Wahrheit ist: Viele Gebäude standen von Anfang an am falschen Ort.

Der Hurrikan hat ein leeres Blatt geschaffen. Die Frage ist: Was schreibt Jamaika darauf?

Für Tony Seba ist die Antwort klar: Nicht das Alte reparieren, sondern neu denken. Statt Stromleitungen flicken, Straßen asphaltieren und das Krankenhaus wiederaufbauen – das 20. Jahrhundert überspringen und eine „Stellar City“ bauen.

Was ist eine Stellar City?

Stellar City (deutsch: Sternstadt) – Eine Stadt, die auf den drei technologischen Disruptionen des 21. Jahrhunderts aufbaut: Saubere Energie (Solar, Wind, Batterien), Transport als Dienstleistung (autonome Elektrofahrzeuge) und Präzisionsfermentation (Nahrungsmittelproduktion ohne Landwirtschaft). Der Begriff stammt vom Think Tank RethinkX. Eine Sternen-Stadt produziert Energie, Mobilität und Nahrung lokal im Überfluss – statt sie aus fossilen oder tierischen Quellen zu importieren. Sie überspringt die zentralisierte Infrastruktur des 20. Jahrhunderts und baut direkt dezentrale Systeme.

In ihrem Buch „Stellar“ (Provisions-Link) beschreiben die Disruptions-Forscher Tony Seba und James Arbib, wie Gesellschaften von zentralisierten, ressourcenintensiven Systemen zu dezentralen Systemen des Überflusses wechseln könnten.

Eine solche Stadt ist der Versuch, diese Idee in eine Stadt zu übersetzen – ob neu gebaut oder transformiert. Laut der Denkfabrik zeichnet sie sich durch vier Merkmale aus:

  • Energie: lokal erzeugt, sauber, im Überfluss vorhanden
  • Mobilität: geteilte, autonome Elektrofahrzeuge statt Privatautos
  • Ernährung: Präzisionsfermentation statt konventioneller Landwirtschaft
  • Arbeit: KI und Robotik übernehmen Routinetätigkeiten

Die Technologien dafür existieren bereits. Solar, Batterien, autonome Fahrzeuge, Präzisionsfermentation – ihre Kosten sinken seit Jahren rapide.

Der entscheidende Punkt: Eine Stellar City braucht nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Regeln. Wem gehören die autonomen Fahrzeuge? Wer verteilt den Stromüberschuss? Wie wird Nahrung aus Präzisionsfermentation reguliert? Die Hardware allein reicht nicht – Verwaltung, Gesetze und Eigentumsfragen müssen neu gedacht werden.

Stellar Energy: Vom Öl-Import zur Energie-Autonomie

Als Hurrikan Melissa einschlug, kollabierte das Stromnetz. Übertragungsleitungen rissen, St. Elizabeth versank in Dunkelheit – manche Haushalte für Wochen.

Für RethinkX ist das kein Zufall, sondern Systemversagen: Das Stromnetz ist zentralisiert, die Infrastruktur veraltet, die Leitungen liegen frei. Ein einzelner Fehlerpunkt kann eine ganze Region lahmlegen.

Jamaikas Energiemix heute:

Energieversorgung Jamaika, 2023, Diagramm
Energieverbrauch in Jamaika 2023 Quelle: International Energy Agency, CC BY 4.0
Die Zahlen der Internationalen Energieagentur sind eindeutig: Über 90 Prozent der Insel-Energieversorgung stammen aus Öl und Erdgas. Solar und Wind sind in der Statistik kaum sichtbar. Beim Endverbrauch dominieren Ölprodukte mit über 70 Prozent.
Das bedeutet: Fast alles wird importiert. Milliarden fließen jährlich ab. Die Preise schwanken mit dem Weltmarkt. Und wie Melissa zeigte: Das System ist anfällig. (Quelle: International Energy Agency, CC BY 4.0)

Die Alternative: SWB-Systeme

Sebas Team schlägt ein Energiesystem vor, das auf Solar, Wind und Batterien (SWB) basiert. Der Unterschied zu fossilen Brennstoffen: Nach dem Bau erzeugen diese Anlagen Strom zu nahezu null Grenzkosten – kein Brennstoff muss importiert werden.

Ein solches System muss so dimensioniert sein, dass es auch in der dunkelsten, windstillsten Woche des Jahres funktioniert. Die Folge: Im Rest des Jahres entsteht ein massiver Überschuss – laut RethinkX das Drei- bis Fünffache des tatsächlichen Bedarfs. Diesen Überschuss nennt der Think Tank „SWB Superpower“ – Energie, die für neue Industrien genutzt werden könnte.

Resilienz durch Dezentralität

Ein Vorteil dezentraler Systeme: Sie sind weniger anfällig. Ein Schaden auf einer Seite der Insel legt nicht die andere lahm. Das zeigte sich nach Melissa: Die wenigen Häuser mit Solaranlagen und Batterien auf dem Dach hatten am Morgen nach dem Sturm wieder Strom – Licht, Kühlung, Klimaanlage. Der Rest der Insel wartete Wochen.

Dazu kommt der Kostenfaktor: Solarstrom ist heute in vielen Regionen bereits günstiger als Strom aus fossilen Quellen. Der Think Tank erwartet, dass sich dieser Trend bis 2030 beschleunigt.

Stellar Transport: Vom Gebrauchtwagen-Import zur Mobilitäts-Revolution

Jamaika importiert jedes Jahr tausende Gebrauchtwagen und den Treibstoff dazu. RethinkX sieht darin eine Chance: Statt die Straßen von Black River für privaten Autobesitz wiederaufzubauen, könnte die Stadt auf „Transport as a Service“ (TaaS) setzen – Flotten autonomer Elektrofahrzeuge auf Abruf.

Seba prognostiziert, dass TaaS innerhalb von zehn Jahren nach regulatorischer Freigabe den Individualverkehr in vielen Regionen ablösen wird.

Laut RethinkX wäre TaaS vier- bis zehnmal günstiger pro Kilometer als ein eigenes Auto. Die Fahrzeuge würden zehnmal effizienter genutzt – weniger Autos stehen ungenutzt herum. Der Staat müsste bis zu 80 Prozent weniger Fahrzeuge importieren.

In Black River hätte das konkrete Folgen: weniger Parkplätze, mehr Platz für Fußgänger. RethinkX sieht die Stadt sogar als möglichen Testmarkt für autonome Fahrzeuge in der Karibik.

Stellar Food: Von der Import-Abhängigkeit zur Ernährungssicherheit

Ernährungsunsicherheit ist ein massives Problem in der Karibik. Laut UN sind bis zu 60 Prozent der Bevölkerung betroffen – vor allem, weil Lebensmittel teuer importiert werden müssen.

RethinkX sieht in Präzisionsfermentation eine Lösung: Proteine und Fette könnten lokal produziert werden, unabhängig von Klima oder Ackerfläche. Laut dem Think Tank ist diese Technologie bis zu 100-mal landeffizienter und 10-mal wassereffizienter als Tierhaltung.

Die Insel in der Karibik hätte dabei einen Vorteil: Zucker, den das Land ohnehin produziert, ist ein idealer Rohstoff für Präzisionsfermentation. Statt Rohzucker zu exportieren, könnte er vor Ort in Proteine umgewandelt werden.

Die Stellar Economy: Tourismus und industrielle Renaissance

Tourismus ist Jamaikas wichtigste Industrie – und gleichzeitig abhängig von Importen. Laut Branchendaten gehen bis zu 60 Prozent der Lebensmittelimporte direkt an den Hotelsektor. Dazu kommen hohe Energiekosten.

RethinkX sieht hier Potenzial: Hotels mit eigener Solarversorgung hätten niedrigere Betriebskosten. Elektrische Taxis – auf dem Land und auf dem Wasser – könnten Touristen leiser und günstiger transportieren. Und Produkte wie Käse oder Eiscreme, die heute importiert werden, könnten durch Präzisionsfermentation vor Ort entstehen.

Industrielle Renaissance

Der Think Tank sieht weitere Möglichkeiten. Jamaika ist einer der größten Bauxit-Produzenten der Welt – die Verarbeitung zu Aluminium ist allerdings extrem energieintensiv. Mit günstigem Solarstrom könnte das Land „grünes Aluminium“ produzieren und sich von schwankenden Ölpreisen entkoppeln.

Eine weitere Idee: Rechenzentren neben Fermentationsanlagen bauen. Die Abwärme der Server könnte die Fermentationstanks heizen – ein Kreislauf, der Energie spart.

All das sind Szenarien, keine Pläne. Was „The Rock“ tatsächlich umsetzt, ist eine politische Entscheidung.

Die Logik des Leapfrogging

Das Prinzip ist nicht neu. Afrika hat das Festnetztelefon übersprungen und ist direkt zum Mobilfunk gegangen. Kenia hat Bankfilialen übersprungen und M-Pesa eingeführt – heute wickelt das Land einen Großteil seiner Zahlungen mobil ab.

Die Ökonomen argumentieren: Black River könnte Ähnliches tun. Statt die zentralisierte Infrastruktur des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren, direkt auf dezentrale Systeme setzen.

Mehr als Katastrophen-Wiederaufbau: Ein skalierbares Modell

Für die Ideengeber ist Black River mehr als Wiederaufbau – es ist ein Testfall. Mit 5.000 Einwohnern ist die Stadt klein genug für schnelle Umsetzung, aber groß genug, um zu zeigen, ob das Konzept funktioniert.

Sollte es gelingen, könnte das Modell auf größere Städte übertragen werden: Kingston, Montego Bay, Portmore. Das ist zumindest die Vision.

Ob Black River tatsächlich zur ersten Stellar City wird, ist offen. Die Voraussetzungen sind da: zerstörte Infrastruktur, politischer Wille zum Neuaufbau, existierende Technologien. Was fehlt, ist eine Entscheidung.

Was das für Deutschland bedeutet

Black River liegt 8.000 Kilometer entfernt. Aber die Frage, die sich dort stellt, ist auch hier relevant: Wiederaufbau der alten Systeme – oder Neuaufbau?

Die Ausgangslage ist unterschiedlich. Deutschland hat funktionierende Infrastruktur, keine Hurrikan-Zerstörung, keine leere Leinwand. Aber die politische Richtung zeigt gerade in die Gegenrichtung: neue Gaskraftwerke ohne Wasserstoff-Pflicht, Debatten über Verbrenner als „Kulturerbe“, Lockerung von Umweltauflagen.

Black River könnte zeigen, dass es anders geht. Nicht als Blaupause für Deutschland – dafür sind die Voraussetzungen zu verschieden. Aber als Beispiel dafür, dass der Sprung in neue Systeme möglich ist, wenn der politische Wille da ist.

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