
Saúl Lliuyas Klimaklage: Wenn David gegen Goliath verliert – und trotzdem gewinnt
Landwirt Saúl Lliuya aus Peru scheitert vor dem OLG Hamm – und schreibt dennoch Rechtsgeschichte: Das Urteil gegen RWE schafft einen Präzedenzfall für globale Klimahaftung.
Heute ist ein guter Tag fürs Klima – auch wenn der peruanische Bergführer Saúl Lliuya seine Klimaklage gegen RWE verloren hat. Denn das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. Mai 2025 liefert einen historischen Präzedenzfall: Erstmals erklärt ein deutsches Gericht, dass große Emittenten grundsätzlich zivilrechtlich für die Folgen der Klimakrise haftbar gemacht werden können (OLG Hamm). Saúl Lliuya mag unterliegen – sein Anliegen jedoch hat Rechtsgeschichte geschrieben: Das Klima-Urteil ist ein historischer Präzedenzfall.
Zwischen Anden und Aktenbergen: Wer ist Saúl Lliuya?
Saúl Luciano Lliuya ist Kleinbauer, Bergführer und Vater. Er lebt in Huaraz, einer Stadt auf 3.000 Metern Höhe in den peruanischen Anden. Oberhalb seiner Heimat liegt der Gletschersee Palcacocha, gespeist von den schmelzenden Gletschern der Cordillera Blanca. 1941 brach dort bereits einmal ein Damm – eine Flutwelle zerstörte ein Drittel der Stadt.
Der Klimawandel hat das Risiko neuer Abbrüche erhöht. Lliuya fürchtet, dass – erneut – eine Flutwelle sein Haus zerstören könnte. Als einer der größten CO₂-Emittenten Europas soll RWE, so seine Klage, einen Anteil von 0,38 Prozent der Kosten für Schutzmaßnahmen übernehmen. Die Summe: rund 13.000 Euro (WiWo, 28.05.2025).
Die Klage beginnt: Unterstützung durch Germanwatch
2015 reichte Saúl Lliuya Klimaklage beim Landgericht Essen ein. Dieses wies die Klage zunächst ab: Eine individuelle Zuordnung der Emissionen zu konkreten Schäden sei nicht möglich. Doch Lliuya ging in Berufung.
Unterstützt wurde er von der Umweltorganisation Germanwatch und der Stiftung Zukunftsfähigkeit, einer gemeinnützigen Stiftung mit Sitz in Bonn, die eng mit Germanwatch verbunden ist und sich für Klimagerechtigkeit und die juristische Durchsetzung von Umwelt- und Menschenrechten einsetzt, die auch alle Kosten trugen (ZEIT, 19.03.2025). Der Prozess wurde zum Symbol für eine neue Dimension der Klimagerechtigkeit.
Wie Germanwatch in einem aktuellen Onepager betont, geht es in diesem Verfahren nicht nur um die individuelle Betroffenheit eines Bauern, sondern um eine Grundsatzfrage: Können große Emittenten rechtlich für ihren Beitrag zur Klimakrise zur Verantwortung gezogen werden?
Die Organisation sieht darin einen paradigmatischen Fall – mit Signalwirkung für die internationale Klimabewegung, für andere Betroffene im globalen Süden und für die Rechtsprechung weltweit. Ein Mensch aus dem globalen Süden fordert Klimagerechtigkeit – mit Paragraf 1004 BGB, eigentlich gedacht für Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Das Landgericht Essen hatte die Klage von Saúl Lliuya 2016 abgewiesen. Es sah keine Möglichkeit, eine individuelle Verursachung durch RWE für die konkrete Gefährdungslage in Peru nachzuweisen. Die Vielzahl globaler Emittenten mache eine Zurechnung auf ein einzelnes Unternehmen unmöglich, so das damalige Urteil.
2017 nahm jedoch das Oberlandesgericht Hamm die Berufung an und ordnete eine Beweisaufnahme an. Der Prozess verzögerte sich mehrfach – unter anderem wegen der hohen Komplexität der Sachlage, der Suche nach geeigneten Sachverständigen sowie der organisatorischen Herausforderungen einer transnationalen Beweiserhebung.
Erst im Mai 2022 reisten deutsche Richter, Gutachter und Anwälte nach Peru. Sie entnahmen Bodenproben, führten Interviews, dokumentierten mit Drohnen. Für Saúl Lliuya ein Erfolg: Gegenüber der WirtschaftsWoche äußerte er, es sei für ihn ein wichtiges Signal gewesen, dass sich Vertreter des Gerichts „ernsthaft mit seiner Situation auseinandergesetzt“ und sich die Lage vor Ort angeschaut hätten.
Im Gerichtssaal: Gestein, Gutachten, Gerechtigkeit
Der Prozess war eine Mischung aus Naturwissenschaft und juristischer Feinarbeit. Zwei zentrale Gutachten prägten die Bewertung:
- Gutachten von Prof. Rolf Katzenbach (Geotechniker): Er kam zu dem Schluss, dass der Berg äußerst stabil sei. Die Wahrscheinlichkeit einer Flutwelle, die das Haus von Lliuya erreicht, liege bei unter einem Prozent. Selbst im Extremfall würde eine nur wenige Zentimeter hohe Wasserwelle auftreten – ohne Gefahr für das Gebäude (ZEIT, 19.03.2025; OLG Hamm, Pressemitteilung).
- Gegengutachten von Dr. Lukas Arenson (Geotechnik-Ingenieur): Er widersprach deutlich und sprach von einem erheblich höheren Risiko. Arenson kritisierte, dass der Einfluss von tauendem Permafrost auf die Stabilität der Hänge nicht berücksichtigt wurde. Laut seiner Einschätzung liege das Risiko eher bei rund 30 Prozent. Er verwies auf internationale Beispiele wie Felsabbrüche im Yosemite-Nationalpark, die trotz ähnlich stabiler geologischer Voraussetzungen eingetreten seien.
Dies sollte zeigen, dass auch Batholith-Gestein – das in der Region um den Palcacocha-See dominiert – unter veränderten klimatischen Bedingungen instabil werden könne. Arenson betonte zudem, dass Permafrostböden in hochalpinen Regionen durch den Klimawandel zunehmend an Bindekraft verlieren, was die Gefahr von Hangrutschungen und Gletscherabbrüchen drastisch erhöhe, wie DIE ZEIT berichtet..
Lliuyas Anwältin Roda Verheyen, eine renommierte Umweltjuristin aus Hamburg, warf dem Gericht vor, klimarelevante Risikofaktoren zu ignorieren und eine konservative Methodik zu bevorzugen. Verheyen ist seit Jahren eine führende Akteurin im Bereich Klimarecht.
Unter anderem war sie maßgeblich an der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Klimaschutzgesetz im Jahr 2021 beteiligt, bei der das Bundesverfassungsgericht feststellte, dass das Gesetz in Teilen verfassungswidrig war, weil es die Freiheitsrechte künftiger Generationen verletze.
Das Gericht wiederum stützte sich auf die Einschätzung Katzenbachs und wies die Kritik an dessen Methodik zurück.
Das Urteil: Kein Geld, aber ein Signal

Am 28. Mai 2025 erklärte das OLG Hamm: Lliuya erhält keine Entschädigung – doch seine Klage war inhaltlich begründet. Der Vorsitzende Richter Dr. Rolf Meyer erklärte: Grundsätzlich könnten Emittenten nach § 1004 BGB für Klimarisiken haftbar – eine Norm, die ursprünglich dem Schutz des Eigentums dient. Sie erlaubt es Eigentümer*innen, gegen rechtswidrige Beeinträchtigungen ihres Besitzes zivilrechtlich vorzugehen, etwa durch Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche.
Das Besondere am Fall Lliuya: Das Gericht hat klargestellt, dass dieser Paragraph auch auf grenzüberschreitende und klimabezogene Sachverhalte angewendet werden kann. sein. Die Entfernung zwischen Emittent (RWE) und Betroffenem (Lliuya) spiele keine Rolle. Auch genehmigte Emissionen schützten nicht vor Haftung.
Wie Germanwatch in seinem Onepager betont, stellt das Gericht klar: Eine staatliche Genehmigung für Emissionen ist kein Freifahrtschein. Unternehmen dürfen auch mit Genehmigung nicht unbegrenzt Schäden anrichten.
„Im Urteil steht: Unternehmen sind verantwortlich für Klimaschäden“, freut sich Anwältin Roda Verheyen im ZEIT-Interview.
Die Emissionen von RWE beruhen auf einer eigenverantwortlichen Entscheidung. Wenn ein Unternehmen in erheblichem Maß zur Gefährdung von Rechtsgütern beiträgt, kann es trotz Genehmigung zivilrechtlich in Anspruch genommen werden. Die Ablehnung erfolgte allein wegen fehlender konkreter Gefahr im Einzelfall.
Ein weiterer zentraler Aspekt aus dem Urteil betrifft die Einordnung der Emissionen von RWE: Mit einem Anteil von rund 0,4 Prozent an den globalen Emissionen ist der Beitrag des Konzerns an der Klimakrise als „erheblich“ einzustufen. Damit unterscheidet sich RWE grundlegend von Einzelpersonen, deren Emissionsanteil zu gering ist, um eine zivilrechtliche Haftung zu begründen. Aus dieser Erheblichkeit leitet sich eine besondere Verantwortung für die Folgen der Klimakrise ab – ein Signal, das weit über den konkreten Fall hinausreicht (Germanwatch, Onepager, 28.05.2025).
Ebenso von zentraler Bedeutung: Das Gericht hat ausdrücklich festgestellt, dass zivilrechtliche Ansprüche im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels grundsätzlich justiziabel sind. Auch wenn die Klimakrise politische Lösungen erfordert, dürfen Zivilgerichte darüber entscheiden, ob individuelle zivilrechtliche Ansprüche – etwa auf Unterlassung oder Schadensersatz – bestehen.
Diese rechtliche Prüfung gehört zur Aufgabe der ordentlichen Gerichtsbarkeit und steht im Einklang mit der verfassungsrechtlich garantierten Gewaltenteilung. Mit einem Anteil von rund 0,4 Prozent an den globalen Emissionen ist der Beitrag des Konzerns an der Klimakrise als „erheblich“ einzustufen. Damit unterscheidet sich RWE grundlegend von Einzelpersonen, deren Emissionsanteil zu gering ist, um eine zivilrechtliche Haftung zu begründen. Aus dieser Erheblichkeit leitet sich eine besondere Verantwortung für die Folgen der Klimakrise ab – ein Signal, das weit über den konkreten Fall hinausreicht.
Das Urteil ist rechtskräftig. Eine Revision wurde nicht zugelassen.
Stimmen zum Urteil
Saúl Lliuya: Laut Germanwatch sei Saúl Lliuya stolz, dass das Verfahren soweit gekommen sei und sehe darin ein wichtiges Signal, dass ein Gericht sich mit der konkreten Lage Betroffener auseinandersetze (Germanwatch, Onepager, 28.05.2025).
Roda Verheyen (Anwältin): „Das Urteil von heute ist ein Meilenstein und wird Klimaklagen gegen fossile Unternehmen und damit der Abkehr von fossilen Brennstoffen weltweit Rückenwind geben“ (dpa, 28.05.2025).
Germanwatch: Der von Germanwatch veröffentlichte Onepager zum Urteil hebt drei wesentliche Schlussfolgerungen hervor:
- Große Emittenten wie RWE können grundsätzlich für die konkreten Folgen der Klimakrise haftbar gemacht werden. Das Gericht erkennt an, dass ein Emissionsanteil von 0,38 Prozent erheblich ist.
- Zivilgerichte dürfen über Klimahaftung urteilen – das stärkt Betroffene weltweit, die bislang oft keine rechtliche Handhabe hatten.
- § 1004 BGB ist auch auf transnationale Sachverhalte anwendbar. Das Urteil schafft einen Präzedenzrahmen, der weitere Verfahren ermöglicht.
RWE: „Wenn es einen solchen Anspruch nach deutschem Recht geben sollte, könnte man auch jeden Autofahrer in Haftung nehmen“.
Fazit: Der Anfang von etwas Größerem?
Die Klage Lliuyas endet ohne Entschädigung. Doch sie passt zu jenem Szenario, das bereits die Headline aufgreift: Wenn David gegen Goliath verliert – und trotzdem gewinnt. Doch sie beginnt ein neues Kapitel der Klimagerechtigkeit. Sie zeigt: Klimarisiken sind nicht länger nur moralisch oder politisch – sie sind rechtlich fassbar. Dass ein Mann aus den Anden deutsche Gerichte zwingt, sich mit Emissionen, Gletschern und globaler Verantwortung zu befassen, ist mehr als symbolisch.
Es ist der Beweis: Die Klimakrise kennt keine Grenzen – und das Recht auch nicht mehr. Saúl Lliuya hat verloren – und trotzdem gewonnen.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.