
Widerspruch, Michael Kretschmer!
Kretschmer im WiWo-Interview „Das ist Wohlstandsvernichtung“: Tempo fordern, beim Klimaschutz bremsen – gefährlicher Spagat des Sächsischen Ministerpräsidenten
Michael Kretschmer fordert Geschwindigkeit. Beim Wohnungsbau, beim Brückenbau, beim Planungsrecht. Und tatsächlich: Verfahren beschleunigen, Infrastruktur zügig erneuern – das ist dringend notwendig. Doch sobald es um Erneuerbare Energien geht, drückt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer plötzlich auf die Bremse – und offenbart damit den zentralen Widerspruch, der diesem Kommentar seinen Titel gibt: Widerspruch, Michael Kretschmer! Im heutigen Interview mit der Wirtschaftswoche spricht er sich für eine Verlangsamung des Windkraftausbaus aus – in einem Bundesland, das ohnehin zu den Schlusslichtern bei Windkraftausbau und Energiewende zählt. Warum?
„Unser aktuelles Tempo ist falsch“, sagt Kretschmer mit Blick auf die Windenergie. Als Beleg nennt er über 1000 Stunden negativer Strompreise im vergangenen Jahr und spricht von „Wohlstandsvernichtung„. Doch diese Sicht ist doppelt irreführend.
Erstens: Negative Strompreise sind kein Zeichen von Überproduktion, sondern ein Indikator für mangelnde Flexibilität im Strommarkt.
Zweitens: Wer den Ausbau von Windkraft verlangsamt, bremst genau jene Technologien aus, die günstigen, sauberen Strom in großem Maßstab liefern können – und auf denen Klimaneutralität überhaupt erst aufbauen kann.

„Es reicht, wenn Deutschland 2050 klimaneutral wirtschaftet“, meint Kretschmer. Doch das widerspricht allen relevanten Studien und Zielen: Die EU-Kommission, das Klimaschutzgesetz, der Weltklimarat IPCC – sie alle legen 2045 als späteste Zielmarke für Deutschland fest.
Nicht aus symbolischen Gründen, sondern weil spätere Zielpfade weder klimawissenschaftlich tragfähig noch global gerecht wären. Wer wie Kretschmer dieses Ziel infrage stellt, erschwert Investitionsentscheidungen, schwächt die Planbarkeit für Industrie und gefährdet damit langfristig die Wettbewerbsfähigkeit.
Kretschmers verkürzter Blick auf die Klimapolitik

Er erweckt den Eindruck, als sei die erneuerbare Stromversorgung bereits das zentrale Klimaprojekt. Dabei ist klar: Strom aus Sonne und Wind ist nur die Basis, um die wirklich emissionsintensiven Sektoren – Industrie, Verkehr, Gebäude – zu dekarbonisieren. Wer 2050 statt 2045 als Zielmarke setzt, wie Michael Kretschmer es fordert, schwächt die Dynamik, mit der genau diese Sektoren transformiert werden müssen.
Warum 2050 klimaneutral nicht ausreichend ist, lässt sich an dieser Stelle besonders deutlich zeigen. – Industrie, Verkehr, Gebäude – zu dekarbonisieren. Wer heute beim Ausbau dieser Basis zögert, verspielt die Chance auf eine klimaneutrale Gesamtwirtschaft.
Noch problematischer ist die Argumentation bei der Finanzierung: „Wenn Steuern reduziert werden, kostet uns das Finanzkraft“, warnt Kretschmer – mit Blick auf soziale Systeme, Kultur und Bildung. Was er dabei ausblendet: Die Kosten für Klimaanpassung, Extremwetter und unterlassene Transformation werden um ein Vielfaches höher ausfallen. Es ist also gerade keine solide Politik, Klimaschutz zugunsten kurzfristiger fiskalischer Argumente zu vernachlässigen.
Das sagt die Forschung: 19 Prozent Einkommensverlust durch Klimawandel
„Übereilter Kohleausstieg“? Widerspruch, Michael Kretschmer!
Sein Plädoyer für einen späteren Kohleausstieg wirkt ebenso aus der Zeit gefallen: „Ein übereilter Braunkohleausstieg vor 2038 ist aus meiner Sicht der falsche Weg.“ Dabei ist der Ausstieg seit Jahren gesetzlich geregelt – und die Realität der Energiemärkte wird ihn ohnehin beschleunigen. Wer heute noch auf Kohle setzt, stellt sich gegen Marktmechanismen, Investorenlogik und das Klimaziel.
Positiv bleibt festzuhalten: Kretschmers Forderung nach europäischer Souveränität in der Industriepolitik ist sinnvoll. Und auch der Abbau bürokratischer Hürden bei Bauvorhaben ist ein notwendiger Hebel für Zukunftsinvestitionen. Doch diese Hebel müssen in die richtige Richtung wirken. Wer Bürokratieabbau fordert, um Panzer schneller zu produzieren – aber zugleich Windräder ausbremst –, hat die Dringlichkeit der Klimatransformation nicht verstanden.
Fazit: Geschwindigkeit ja – aber mit der Zukunft, nicht gegen sie
Wenn Sachsen wirtschaftlich stark bleiben will, braucht es ein klares Bekenntnis zur grünen Transformation. Die Industrie fordert günstige, saubere Energie – genau das, was ein beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren, nicht deren Verlangsamung liefern kann. Sachsen braucht eine Energiepolitik, die das Ziel klimaneutral bis 2045 als wirtschaftliche Notwendigkeit begreift. Widerspruch, Michael Kretschmer! – wer Wachstum und Sicherheit will, kann die Erneuerbaren nicht länger blockieren.
Die Bevölkerung erwartet tragfähige Lösungen. Und internationale Investoren achten zunehmend auf glaubwürdige Klimastrategien. Wer hier weiter auf fossile Pfade und symbolische Verlangsamung setzt, riskiert genau das, was er zu verhindern vorgibt: den Verlust von Wohlstand und Perspektive.

Martin Ulrich Jendrischik, Jahrgang 1977, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren als Journalist und Kommunikationsberater mit sauberen Technologien. 2009 gründete er Cleanthinking.de – Sauber in die Zukunft. Im Zentrum steht die Frage, wie Cleantech dazu beitragen kann, das Klimaproblem zu lösen. Die oft als sozial-ökologische Wandelprozesse beschriebenen Veränderungen begleitet der Autor und Diplom-Kaufmann Jendrischik intensiv. Als „Clean Planet Advocat“ bringt sich der gebürtige Heidelberger nicht nur in sozialen Netzwerken wie Twitter / X oder Linkedin und Facebook über die Cleanthinking-Kanäle ein.